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Bildmotiv „Lebende Kreuze“ (15. und 16. Jh.)

„Lebende Kreuze“ (nicht: „lebendige Kreuze“!) findet man bereits im Hochmittelalter in Norditalien, von wo aus sich dieses Motiv langsam in den Alpenraum hinein ausbreitete. Auch in der Ostkirche wurde das Motiv ab dem 17. Jahrhundert aufgegriffen; ihr Titel lautet in der Ikonenmalerei „Früchte der Leiden Christi“.
Der Aufbau eines „lebenden Kreuzes“ ist stets ähnlich: Aus einem lateinischen Kreuz im Bildzentrum erwachsen menschliche Hände. Eine der Hand hält ein Schwert, in der anderen eine Krone. Dies ist ein Verweis auf das Gericht: Die Sünder werden mit dem Schwert bestraft, die Gerechten mit der Krone belohnt. In der Mitte der Mauer öffnet eine weitere menschliche Hand das zentrale Eingangstor zu Jerusalem. Die theologische Aussage ist, dass mit dem Kreuzestod Christi der Zugang zum Neuen Jerusalem geöffnet und damit Erlösung möglich wird. Über dem Kreuz erscheint stets das Neue Jerusalem, ganz überwiegend mit einer Darstellung Gottvaters in den Wolken über der Stadt.
So seltsam die Bildkonzeption ist, so wenig wissen wir über die Entstehungsgeschichte der „Lebenden Kreuze“. Man kennt Ölmalereien, Fresken und Kupferstiche mit diesem Motiv. Richtig beliebt war diese Skurrilität nie, und mit der Frühaufklärung ist das Bildmotiv endgültig verschwunden. Erhalten haben sich eine Handvoll von Beispielen, die, sofern sie das Himmlische Jerusalem zeigen, hier von Interesse sind.
Die obige Darstellung des spätmittelalterlichen Bildmotivs „Lebendes Kreuz“ ist eine der frühesten Fassungen, die sich erhalten hat. Es handelt sich um ein Wandfresko aus der Kathedrale San Petronio in Bologna (Emilia-Romagna). Entstanden ist diese Wandmalerei 1410, ausgeführt wurde sie von Giovanni di Pietro Falloppi, bekannt als Giovanni da Modena (vermutl. 1379-1456). Ein Arm des Kreuzes bekrönt hier eine Frau, die symbolische das Christentum vertritt, ein anderer Arm stößt einer weitere Frau, die symbolisch für das Judentum steht, eine Krone herunter. Ein weiterer, dritter Arm reckt sich nach oben, wendet sich nach links, um dort die Pforte des Neuen Jerusalem aufzuschließen. Dieses erinnert mit seinen kleinen Fenstern, hohen Mauern und gerundeten Formen an die Festungen der Staufer in Apulien. Es ist die einzige mir bekannte Darstellung dieses Bildtyps, bei dem das Neue Jerusalem nicht symmetrisch die Mitte besetzt, sondern an die linke Seite verschoben ist.

Francesco Filippini: Gli affreschi della Cappella Bolognini in San Petronio, in: Bollettino d’arte, 10, 1916, S. 193-214.
Achim Timmermann: The avenging crucifix: Some observations on the iconography of the living cross, in: Gesta, 40, 2, 2001, S. 141-160.
Daniele Benati, Lucia Peruzzi: La Basilica di San Petronio in Bologna, 2 Bdd., Bologna, 1983-1984. 

 

Das Himmlische Jerusalem in der Kapelle Santa Croce ist nicht leicht zu entdecken, denn es ist nur wenige Zentimeter groß und befindet sich zudem auf einem höher gelegenen Teil der Wandpartie. Die Stadt präsentiert sich als kleine Festung: An ihren Ecken befinden sich zwei schmale Rundtürme, deren Fahnen übrigens in entgegengesetzter Richtung wehen. In der Mitte ist ein hohes, geschlossenes Tor gesetzt. Über den Zinnen befindet sich eine Schar Heiliger und Engel, die zum Teil musizieren. Direkt unter der großen Mitteltür befindet sich der gekreuzigte Christus, das eigentliche Thema dieser Wandpartie und auch der gesamten Kapelle. Aus dem oberen Kreuzstumpf ragt eine Hand mit einem Schlüssel hervor, die das Tor zur Gottesstadt aufschließt. Erwähnt werden müssen noch die beiden Figuren neben der Gottesstadt: Rechts ein Engel, links Johannes als Evangelist in seiner Schreibstube.
Santa Croce befindet sich in Mondovi (Piemont), ein Ort östlich von Turin. Diese Region war um die Mitte des 15. Jahrhunderts das Zentrum von Wandmalereien mit dem Himmlischen Jerusalem, was vor allem Arbeiten in San Fiorenzo in Mondovi oder Saint-André im Kanton Monêtier-les-Bains belegen. Der Maler dieser Arbeit ist nicht bekannt. Erwiesen ist aber, dass er die Malerei von da Modena gekannt hat.

Geronimo Raineri: Antonio da Monteregale e l’arte delle Alpi Marittime: Santa Croce in Mondovì Piazza, S. Bernardo delle Forche in Mondovì Borgo Ferrone, Mondovì 1976.
Geronimo Raineri: Cappella di Santa Croce a Mondovì Piazza, Mondovì 1982.
Giancarlo Comino: Chiesa e sinagoga: l’iconografia della ‚croce vivente’ come specchio della polemica antiebraica, con particolare riferimento alla cappella di Santa Croce a Mondovì, in: Bollettino della Società per gli Studi Storici, Archeologici ed Artistici della Provincia di Cuneo, 141, 2, 2009, S. 7-19.

 

In Thörl (Steiermark) befindet sich die im Stil der Gotik gestaltete Pfarrkirche St. Andrä, deren Wand- und Deckenfresken auf das Ende des 15. Jahrhunderts zurückgehen. Sie wurden 1886 entdeckt und unter Berthold Winder (1833-1888) und Theophil Melicher (1860-1926) freigelegt. Im Chor befindet sich ein „Lebendes Kreuz“, ein bedeutendes Werk des Thomas von Villach. Dieser hieß eigentlich Thomas Artula (geb. um 1438, gest. um 1525). Er war ab etwa 1455 in Villach tätig und gilt als bedeutendster Fresken- und Tafelmaler in Kärnten zu seiner Zeit. Über dem gekreuzigten Christus erheben sich, nach unten durch ein weißes Wolkenband getrennt, die bogenförmigen Mauern des Neuen Jerusalem. Blickfang ist ein zentrales Tor, an dessen Seiten sich dreigliedrige Rundtürme nach oben schieben. Darüber wacht der Seelenwäger Michael mit Waage und Schwert. Das Tor wird von einer Hand aufgeschlossen, die aus dem obersten Kreuzende herausragt. Damit brachte Thomas von Villach erstmalig eine Konzeption in die Alpen, die zuvor in Bologna und in Mondovi zur Anwendung gebracht worden war.

Siegfried Hartwagner: Pfarrkirche St. Andrä in Thörl-Maglern, Kärnten, Thörl-Maglern 1976.
Friedrich Zauner: Das Hierarchienbild der Gotik, Stuttgart 1980. 

 

Dieses „Lebende Kreuz“ ist ein Ölgemälde der Renaissance, welches im Umkreis der Kreta-Malschule entstanden ist und sich heute im Musée des Beaux-Arts in Beaune befindet. Die weder datierte noch signierte Arbeit ist im Laufe des 16. Jahrhunderts entstanden. Diese Fassung ist nur 126 x 97 Zentimeter groß, hier wird lediglich die obere Hälfte gezeigt. Das Himmlische Jerusalem ist dort am oberen Abschluss dargestellt. Über den beiden Kreuzesarmen links und rechts erscheinen jeweils blockartige Tore. Zwischen den beiden Toren zieht sich eine Mauer entlang. Tor und Mauern sind auch auf dem Original nur schwer zu erkennen, vor allem an der linken Seite soll gleißendes Licht und Helle die himmlische Sphäre markieren. Hinzu kommen jedoch auch Schäden an der Ölmalerei, trotz einer Restaurierung 1991.

 

Eine bekannte Fassung des Motivs „Lebendes Kreuz“ befindet sich in der Gemäldegalerie Berlin Es ist ein insgesamt fast drei Meter hohes Altarbild in Öl von Sebastiano Filippi, gen. Bastianino (um 1532 – 1602) aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Entstanden ist es in Ferrara für ein katholisches Kloster. Dieses Gemälde nimmt die Darstellung eines wandfüllenden Freskos von Garofalo „Il Nuovo e il Vecchio Testamento” auf, das heute in der Pinacoteca Nazionale Ferrara zu sehen ist. 1912 schenkten die Nachfahren des Hamburger Konsuls Eduard Friedrich Weber das Gemälde Filippis der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität zu Berlin). Das Bild lagerte dann über die Kriegsjahre im Berliner Dom. Durch die dort ungünstigen klimatischen Bedingungen schrumpfte die Pappelholztafel und bildete Risse. Gleichzeitig kam es zu starken Malschichtlockerungen und erheblichen Verlusten der Malerei. Viele feinteilige Fehlstellen, ältere großflächige Übermalungen, vergilbte Firnisse und Rückstände früherer Festigungen beeinträchtigten die Gesamtwirkung des Kunstwerkes erheblich. Seit 2015 kam es deswegen als Dauerleihgabe in das Museum, wo es 2018/19 von Maria Zielke umfassend restauriert wurde. Über einem hölzernen Kreuz erhebt sich eine Festungsanlage, die mit Engeln angefüllt ist und die teilweise die Architektur tragen. Diese Stadt schwebt also nicht allein auf Wolken, sondern wird von Engeln getragen. Das sieht man deutlich an der linken bzw. rechten Ecke, wo ein Engel in gelbem bzw. blauen Gewand einen Arm kraftvoll gespannt hält und sich gegen die Stadt stemmt. Eine solche ausdrucksstarke Pose wäre in den mittelalterlichen Vorgängerarbeiten noch unmöglich gewesen, eigentlich ist sie typisch auf späteren neuspanischen Himmelspforten nach der Lauretanischen Litanei, etwa von Luis de Riano oder Seguidor de Angelino Medoro. Auf dem mittigen Turm stehen die Buchstaben „PARA DISVS“, womit das Paradies gemeint ist, welches uns hier Filippi als Jerusalems-Stadtanlage präsentiert. Über dem zentralen, leicht erhöhten Turm hebt Gottvater in einem blauen Gewand beschwörend seine Hände, unter dem Turm sieht man links und rechts zwei Schlüssel. Diese werden von Händen gehalten, die zum Kruzifixus gehören, und sie weisen in Richtung der beiden offenen Tore. Die theologische Aussage dahinter will sagen, dass mit dem Tod Christi die verschlossene Paradiestür als offene Himmelspforte wieder für den Menschen zugänglich ist.

 

Um 1575 entstand erstmals in Süddeutschland eine Darstellung des Motivs „Lebendes Kreuz“. Der kleine Ausschnitt gehört zu einem Tafelbild mit einer komplexen Darstellung des Gekreuzigten und Wiedergabe der Allegorien Ecclesia und Synagoga sowie Memento-Mori-Allegorien mit zahlreichen Bibelzitaten in lateinischer Sprache. Insgesamt ist das Bild 98 x 78 Zentimeter groß, der Ausschnitt ca. 11 x 10 Zentimeter, das Neue Jerusalem darauf lediglich vier mal vier Zentimeter klein. Es befindet sich zwischen dem Kruzifix unten und Gottvater oben. Es ist ein Komposit zwischen Paradies und Himmelsstadt. Vor Büschen und Bäumen sehen wir zwei Figuren, die Dank zweier Spruchbänder identifizierbar sind, es sind Enoch (links) und Elias (rechts), beides Eschatologen, die das Irdische mit dem Zukünftigen verbanden. Die Gartenanlage ist von einer gerundeten Mauer umgeben, mit einem Tor vorne, bekrönt mit einem lateinischen Kreuz. Dieses Tor wird gerade von einer Hand mit einem Schlüssel aufgeschlossen, die zu dem gekreuzigten Christus gehört. Das Ölgemälde war lange Zeit Teil einer Privatsammlung, bis es 2013 international zur Versteigerung anstand und dabei der kunstinteressierten Öffentlichkeit bekannter wurde. Seine kunsthistorische Einordnung und Erforschung stehen noch aus.

 

Dieses jüngere Beispiel hat sich an der Nordwand des Chorjochs der römisch-katholischen Pfarrkirche von St. Lorenzen im Mürztal (Steiermark) erhalten. Es wurde laut einer Inschrift am 18. Oktober 1575 vollendet. Das nur fragmentarisch erhaltene und vor allem im unteren Bereich zerstörte Fresko ist zwar um vieles einfacher gearbeitet als das etwa fünfzig Jahre ältere „Lebende Kreuz“ in der Pfarrkirche von Thörl. Die Bildprogramme der beiden „Lebenden Kreuze“ entsprechen einander jedoch ziemlich genau. Das obere Ende des Kreuzstammes hält auch hier den Schlüssel für das Himmlische Jerusalem bereit.

Irmgard Dieplinger: Die Wandmalereien in der Pfarrkirche St. Lorenzen im Mürztal, Graz 1992.
Leopold Kretzenbacher: Sankt Erasmus in der Steiermark. Zu den Neuaufdeckungen spätmittelalterlicher Fresken in St. Lorenzen im Mürztal, in: Blätter für Heimatkunde, hrsg. vom Historischen Verein für Steiermark, Graz 1992.
Otto Fraydenegg-Monzello: St. Lorenzen im Mürztal. Hauptpfarrkirche St. Lorenzen im Mürztal, Salzburg 1994.

 

Der hiesige Kupferstich mit dem Titel „Christus-Armkreuz“ entstand zwischen 1576 und 1600. Das 37 x 29 Zentimeter große Blatt zeigt Christus am Kreuz, darüber drei Türme des Himmlischen Jerusalem, in abweisender Festungsarchitektur des späten 16. Jahrhunderts, ähnlich wie auf der vorherigen Malerei aus der Kreta-Malschule. Von dem Punkt, der von dem Schlüssel bzw. Tor verdeckt ist, geht aus der Stadt ein Strahlenkranz aus, der auch noch über dem Haupttor zu sehen ist. Da der obere Rand später beschnitten wurde, muss man sich das Haupttor und den Strahlenkranz als vollständig denken. Der vor allem inhaltlich anspruchsvolle Stich, von dem sich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel (HAB, Inv. Nr. Graph. C 633.2 bzw. 3) zwei identische Exemplare erhalten haben, war ursprünglich in einem Druckwerk eingebunden. Vermutlich handelte es sich um eine allegorische Frömmigkeitspublikation aus den Niederlanden, in lateinischer Sprache.

 

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