Vor dem Jüngsten Gericht ist die Pforte des Himmels geschlossen, nach dem Gericht ist sie offen. In der Ostkirche wird das Gericht von Christus eröffnet, auf Buch- und Wandmalereien erscheint Christus Pantokrator als machtvolle Erscheinung, die kraftvoll das Alte beiseite räumt. So mag möglicherweise die Vorstellung entstanden sein, dass die Flügel der Himmelspforte durch sein Erscheinen regelrecht weggesprengt wurden, man spricht daher von den „aufgesprengten Türflügeln“. Sie gehören zu der Gruppe von Motiven, die pars pro toto einen Teil des Himmlischen Jerusalem andeuten. Zahlreiche solcher „aufgesprengte Türflügel“ haben sich auf Miniaturen erhalten. Eines der frühesten Beispiele findet sich in der Apokalypse-Interpretation aus Moskau (um 1550).
Nun existierten neben Buchillustrationen auch Malereien dieses Motivs. Ein ebenfalls sehr früher Nachweis findet sich auf der sog. Kreml-Apokalypse aus Moskau. Diese steht heute in der Uspenski-Kathedrale (Mariä-Entschlafens-Kathedrale) im Moskauer Kreml. Sie wurde kurz nach dem Neubau der Kirche 1475 bis 1489 von einem unbekannten Meister um 1550 geschaffen, den man notgedrungen „Meister des Kremls“ nennt. Die Ikone zeigt ein komplexes Weltgericht, unter anderem auch das Himmlische Jerusalem als Stadt mit einer auffälligen Mauer im Zackenstil. Man findet auch hier das Motiv der aufgesprengten Türflügel. Allerdings werden die beiden Flügel leicht übersehen, da der Lack der Ikone gebrochen, zum Teil abgeblättert ist und die Flügel farblich nicht hervorstechen. Selbst auf dem Original ist es, aufgrund der unzureichenden Beleuchtung und der Entfernung, nicht viel besser zu erkennen. Die Position ist an der linken Seite oben. Dort erscheint in einem Medaillon Christus Pantokrator, versammelt von zahlreichen Heiligen außerhalb des Medaillons. Die Verbindung zwischen dem Innen- und Außenbereich stellen hier an beiden Seiten die Türflügel her.
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Ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert soll auf Kreta (heute Griechenland) entstanden sein. Es handelt sich dabei nicht um ein Weltgericht, sondern um die Auffahrt Mariens in den Himmel. Auf einer solchen Darstellung ergab sich zwangsläufig die Frage, in welcher Form sich der Himmel öffnet. Der Maler zeigt „Das Entschlafen der Mutter Gottes“, also Maria, wie sie in das Himmlische Jerusalem aufsteigt (Koimesis ist der Fachbegriff dafür). Davon sind im oberen Drittel der nur 44 x 32 Zentimeter kleinen Arbeit zwei relativ große Türflügel zu sehen. Sie sind beide überaus prächtig im Stil der Renaissance verziert, wobei die Musterungen einer Schmiedearbeit imitiert wurden. Erstaunlicherweise sind von der Malerei einmal der Künstler und das Entstehungsjahr bekannt, es handelt sich um eine Arbeit von Konstantinos Tzanes von 1677. Tzanes (1633-1685) war ein beliebter griechischer Maler der kretischen Renaissance, der in Venedig und auf Kreta nachgewiesen ist. Dieses Werk gelangte von Kreta nach Recklinghausen, wo es 2014 vom dortigen Ikonenmuseum erworben wurde (Inventarnummer 3943).
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Dieses Beispiel ist jünger. Auch hier geht es um Maria, ebenfalls um eine Szene nach ihrem Erdenleben. Gezeigt wird ihre Aufnahme im Himmel. Hier sind die Türflügel fast versteckt von Wolken umfangen, von der weiteren Stadt Jerusalem ist nichts zu sehen. Zusätzlich sind die Türflügel schwer zu erkennen, da sie aus reinem Gold zu bestehen scheinen, in der gleichen Goldtönung wie der Hintergrund. Entsprechend dem Zeitgeschmack findet sich weder barocker noch renaissancehafter Schmuck, lediglich Profilierungen von Kassetten sind angedeutet. Die überaus feine Ikone der Größe 40 x 46 Zentimeter entstand um 1850 in Lancram, dt. Mühlbachtal, heute Rumänien, Siebenbürgen). Als Vermächtnis von Mechthild Behn (1942-2002) befindet sie sich im Ikonenmuseum Recklinghausen (Inventarnummer 1125). Der Glanz des Werkes rührt daher, dass es sich um eine Hinterglasmalerei handelt. Lancram war damals, durch die Familie Costea und andere, ein Zentrum der Ikonen-Glasmalerei innerhalb der Habsburgermonarchie.
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Wieder ein Jahrhundert später entstand eine moderne Interpretation. Man findet sie (noch) in der römisch-katholischen Kirche St. Benedikt in Ebenhausen, südlich von München (dort Hauptschiff, rechte Seite). Ein Beiblatt neben dieser Ikone verrät: Das Tafelbild entstand 1987 „in alter Ikonentechnik“ für den Wettbewerb „Ein Christusbild für die Liturgie von heute“ von der Gruppe Falfalluca. In dieser Gruppe, begründet von Katharina Zipser, arbeiteten damals ein Dutzend unterschiedlicher Künstler. Auch wenn sie vielleicht nicht alle, oder doch in unterschiedlicher Beteiligung, an diesem Werk mitarbeiteten, nennt das Beiblatt namentlich: Pater Bock, Mea Borojan, Kathleen Horn, Dorothea Huber, Rosa Irl, Hans Jürgen Kier, Thomas Liertz, Gitta Pross, Elisabeth Späth und Brigitta Spohn. Zipser (geb. 1958) stammt übrigens aus Siebenbürgen, womit eine Verbindung zu der dortigen Ikonenmalerei-Schule besteht.
1991 wurde das Gemälde durch Spenden von der Kirchengemeinde Ebenhausen erworben. Das Bild zeigt im Zentrum den auferstandenen Christus. Um ihn wurden kleine, rechteckige Szenen angeordnet, die wiederum Bilder im Bild ausmachen. Eine der Szenen direkt über dem Christushaupt zeigt die sich öffnende Himmelspforte. Dabei schieben Engel von zwei Seiten jeweils einen der Türflügel nach außen, so dass das Auge Gottes (ein Trinitätssymbol) erscheinen kann, darunter die Taube als ein Symbol des Heiligen Geistes. Bei dieser Pforte sind nun die Innenseiten, die man gewöhnlich nicht sehen würde, ornamentiert. Es ist eine Kombination vorangegangener, älterer Türflügel-Darstellungen. So findet man sowohl gekreuzte Profilierungen als auch eine weiß aufgesetzte Punktierung. Ungewöhnlich: Die Flügel sind nicht rechteckig, sondern gebogen, womit auf den „aufgerollten Himmel“ angespielt ist, der sich öfters auf Ikonen des 16. und 17. Jahrhunderts finden lässt. Auch er zeigt an, dass das Alte vergangen, die neue Zeit (wenn es noch eine Zeit gibt) begonnen hat. Ich habe das Kunstwerk noch 2022 dokumentieren dürfen, als sich die Kirche bereits in der Auflösung befand – vermutlich wird sie profaniert und anschließend abgerissen. Was aus dem Kunstwerk wird, ist ungewiss, möglicherweise kann es in das Diözesanmuseum Freising zurückkehren, das den Wettbewerb einst ausgeschrieben hatte.
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