
Die später weltbekannte Serie „Apocalipsis cum figuris“ entstand in den Jahren von 1496 bis 1498. Albrecht Dürer war gerade einmal 25 Jahre alt. 1498 erschienen in Nürnberg zwei Ausgaben der Apokalypse mit den von Dürer gefertigten Bildern, eine in deutscher und eine in lateinischer Sprache. Es war Dürers erste große Holzschnittfolge, die nach seiner Italienreise entstand und die intime Kenntnis der Arbeiten von Michael Wolgemut (1434-1519), Martin Schongauer (um 1445/1450-1491) und Andrea Mantegna (1431-1506) voraussetzen lässt.
In Dürers Serie kennt man allgemein das Bild mit einem verfallenen Jerusalem, das die göttliche Stadt in Manier einer mitteldeutschen Kleinstadt am Ende des 15. Jahrhunderts präsentiert.
Kaum bekannt ist, dass es innerhalb dieser Serie ein weiteres Bild gibt, welches das Himmlische Jerusalem thematisiert, nämlich in Form einer Himmelspforte. Es ist bereits der zweite, 39 x 28 cm große Holzschnitt der Serie. Das eigentliche Thema sind die 24 Ältesten um den Thron Gottes im Himmel nach Apokalypse 4, 1-10 und 5, 1-8. Links und rechts am Bildrand sind die geöffneten hölzernen Türflügel des gewaltigen Himmelstors zu sehen. Von Flügel zu Flügel spannt sich ein Bogen aus Steinquadern, so dass der gesamte obere Bildinhalt in eine weit geöffnete Himmelspforte eingefasst ist.
Albrecht Dürer hat die visionären Inhalte – also das Lamm mit seinen sieben Hörnern und sieben Augen, die vier mit Augen übersäten Gestalten mit sechs Flügeln – so real wie möglich dargestellt. Johannes der Seher kniet davor auf einer Wolkenbank, einer der vierundzwanzig Ältesten wendet sich ihm zu. Alle vierundzwanzig Personen sind individuell ausgestaltet: Sie unterscheiden sich in Physiognomie, Kleidung und Haltung, sogar ihre Kronen sind unterschiedlich. Die ruhige und friedliche Landschaft im unteren Bilddrittel steht in scharfem Kontrast dazu – noch ist nichts von den endzeitlichen Katastrophen zu bemerken, die demnächst auf die Schöpfung hereinbrechen werden. Die Vedute zeigt aber bereits Ähnlichkeit des noch folgenden Hauptbildes des Neuen Jerusalem, wenngleich die Engel an den Toren der Stadt hier noch weggelassen wurden.
Rudolf Chadraba: Politische Sinngehalte in Dürers Apokalypse, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 12, 1, 1963, S. 80-105.
Werner Körte: Albrecht Dürer. Die Apokalypse des Johannes, Stuttgart 1971 (4).
Alexander Perrig: Albrecht Dürer oder die Heimlichkeit der deutschen Ketzerei, Weinheim 1987.
Jérôme Cottin: L’Apocalypse de Dürer, in: Jean Burgos (Hrsg.): L’imaginaire des apocalypses, Paris 2003, S. 89-112.
Andrej Viktorovič Gamlickij u.a.: Drevnjaja Rusʹ i Zapad: russkij, licevoj Apokalipsis XVI-XVII vekov, Moskau 2018.