Die spätgotische Wehrkirche Saint-Martin mit dem massiven Turm stammt aus dem 15. Jahrhundert. Von außen schlicht und unauffällig, überrascht das Bauwerk im Inneren mit Fresken an allen Wandseiten. Sie sind heute ein kunsthistorisches Highlight, der Schriftsteller Maurice Barrès hat schon 1909 geraten: „Gehen Sie nach Sillegny mit seiner armen Kirche, den frommen und barbarischen Fresken aus dem 16. Jahrhundert. Das ist der Ort, wo man die ganze Poesie von Seille spürt und sich das Herz verengt am Ufer der Mosel“.
Für das Innere der Kirche waren Maler aus dem Kloster Sainte-Marie-aux-Nonnains bei Metz (Lothringen) verantwortlich, die mit den Arbeiten um 1490 begannen. Der Tod des Pfarrers von Saint-Martin, die Religionskriege und Kämpfe um Lothringen verzögerten die Fertigstellung bis etwa 1550. Inzwischen hatte sich der Kunstgeschmack merklich geändert, und die farbigen Malereien verschwanden bald unter einem weißen Kalkanstrich. Erst 1845 wurden die Fresken von einem Pfarrer Schnabel wieder entdeckt und unter der Leitung von Malardort aus Metz restauriert. Bei einem Bombardement 1944 wurde das 42 Quadratmeter große Fresko durch Brandbomben beschädigt, die Restaurierung wurde schon 1946 eingeleitet, aber erst 1963 abgeschlossen. 2002 bis 2004 kam es, mit finanziert durch den Förderverein „La sixtine de la Seille“, zu einer neuerlichen Reinigung, unmittelbar danach wurden diese Aufnahmen angefertigt.
In der bunten Malerei zu Sillegny spiegelt sich der ganze farbenfrohe Herbst des Spätmittelalters wider. Das breitet sich aus auf 42 Quadratmauern auf der Westseite dem Altar gegenüber. Von der Stadt Jerusalem sind Außenmauern, Türme und ein offenes Tor zu sehen. Vom weißen Hintergrund heben sich besonders rote, gelbe und blaue Farbpartien ab. Das Ganze ist bunt zusammengewürfelt, und die Silhouette der spitzen Turmdächer erinnert entfernt an Chateau du Haut-Konigsbourg. In Richtung des Zugangstors links zieht vor der Stadt eine Reihe nackter Seliger, die zuvor, von Christus her kommend, eine Wegstrecke mit Engeln geflogen sind. Die letzten paar Meter müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Das geschieht auf einem eigenartigen Vorbau, eine Art Hängebrücke, Leiter oder Treppe, vgl. dazu auch die Fresken in Vadum oder in Hjembaek. Offensichtlich haben diese oder andere Weltgerichtszenen aus dem Burgunder Raum nach Osten ausgestrahlt, denn ganz ähnliche Kompositionen finden sich auch in Schwaförden, Scholen und Leveste: Sillegny war als Pilgerstätte vielen Deutschen bekannt. Es besitzt jedoch eine weitere singuläre Besonderheit: Über dem Wandbogen wurde eine zweite Pforte gesetzt, diesmal nicht leerstehend, sondern mit Christus besetzt, welcher eigenartiger Weise bereits direkt darüber ein weiteres Mal gesetzt ist.
Es fällt auf, dass diese Pforte wie auch Christus Pantokrator über dem Regenbogen nicht genau auf Höhe des Scheitels der gebogenen Durchgangsöffnung gesetzt wurden, sondern deutlich etwa einen halben Meter nach links. Sehen wir uns die Szenen um diese Pforte aufmerksam an, fällt auf, dass links zwei Dämonen einen gerade auferstandenen Menschen foltern, während rechts ein Mensch von einem Engel gerettet wird. Eigentlich müsste die Folterszene und die Rettungsszene getauscht werden, denn links ist der Rettungsort für die Heiligen, rechts die Hölle für die Verdammten, nicht umgekehrt. Zuletzt muss konstatiert werden, dass die Darstellungsweise der Pforte gänzlich anders ist als bei dem Himmlischen Jerusalem: Es sind bereits Schmuckformen der Renaissance. Damit, und auch an anderen Merkmalen, kann davon ausgegangen werden, dass das Neue Jerusalem zu den frühen Malereien noch zu Ende des 15. Jahrhunderts gehört, die Pforte aber zu den abschließenden Malereien um die Mitte des 16. Jahrhunderts.
Paul de Mardigny: Dénombrement des villages et gagnages des environs de Metz au commencement du XVe siècle, in: Mémoires de l’Académie Impériale de Metz, Metz 1855, S. 431-523.
René Bastien, Jean-Marie Pirus: Die Malereien in der Kirche von Sillegny, Sarreguemines 1995.
Beitragsbild: Cédric Amey, Sillegny, église Saint-Martin, fresque du jugement dernier, CC BY-SA 3.0