Als Moerdrecht-Meister oder Meister des Otto van Moerdrecht (niederl. Meester van Otto van Moerdrecht) wird ein mittelalterlicher Buchmaler bezeichnet, der etwa von 1420 bis 1430 in den nördlichen Niederlanden tätig war und dort nachgewiesen ist. Eines seiner Werke ist ein Gebet- und Stundenbuch für die Herzogin Maria von Geldern, welches um 1420 entstanden ist und damit in sein Frühwerk fällt. Ein anderer Beteiligter war der Mönch und Schreiber Helmich de Lewe aus dem Augustinerkloster Marienborn bei Arnheim, der bis 1415 an dem Band mitwirkte, neben einem Team von etwa fünf weiteren Illustratoren. Wer genau welche Miniatur geschaffen hat, ist eindeutig nicht zuzuweisen und umstritten; gelegentlich waren auch mehrere Künstler an einer Miniatur beteiligt, ebenso üblich war, dass von externer Stelle Auftragsarbeiten hinzugekauft wurden.
Lange Zeit war der Band in einem schlechten Zustand, bis in den 1990er Jahre keine allgemeine Benutzung mehr möglich war. Es ist ein Phänomen, über das Bibliotheken ungern sprechen: Während Pretiosen in Fürsten- oder Klosterbibliotheken Jahrhunderte unbeschadet überstehen, beginnen sie in modernen Bibliotheken schnell zu verfallen und erleiden Schäden – vermutlich durch die neuen klimatischen Verhältnisse, aber vermutlich ebenso durch andauernde neue chemische und konservatorische Maßnahmen und Behandlungen, anstatt die Werke einfach in Ruhe altern zu lassen. Um diese Maßnahmen ist gewissermaßen eine ganze Industrie entstanden. Zuletzt rückte man dem Band in einem interdisziplinären Großprojekt unter Beteiligung des Rathgen-Forschungslabors der Staatlichen Museen zu Berlin, der Radboud-Universität Nimwegen, des Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energien, des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung sowie des Museums Het Valkhof in Nijmegen zu Leibe. Der Band war erneut für Jahre den Benutzern entzogen, nicht einmal an eine Online-Ausgabe hat man gedacht, was einmal mehr zeigt, wie drittklassig sich deutsche Bibliotheken inzwischen präsentieren. Seit fast nunmehr zehn Jahren (!) kündigt der Bibliothekskatalog großspurig an: „Das Werk, das Sie suchen, befindet sich aktuell in der Digitalisierung“:
Statt Millionen in fragwürdige Restaurierungen zu investieren, die wissenschaftlich keine wirklich neuen Erkenntnisse brachten, wäre eine Digitalisierung zu einem Bruchteil der Kosten möglich gewesen. Heute befindet sich also die kostbare Handschrift, die übrigens nicht gebunden ist, weiterhin unzugänglich unter der Signatur MS Germ qu 42 in der Staatsbibliothek zu Berlin. Von den 92 Miniaturen zeigt fol. 18v links ein Neues Jerusalem im Genre pars pro toto als Himmelspforte. Es ist ein schmaler Bau mit einer hölzernen Tür, die noch verschlossen ist. Dem Maler war das Holz besonders wichtig, sogar einzelne Nägel sind hier aufgemalt. Ungewöhnlich ist der zarte Pastellton des Mauerwerks, der vielleicht Marmor andeuten soll. Klar orientier sich die Architektur an fol. 7r einer kurz zuvor erschienenen Legenda Aurea (MS 9228).
Über dem Portal haben sich bei MS Germ qu 42 drei Heilige versammelt, vor der Pforte wacht Petrus, der gerade dabei ist, die Pforte aufzuschließen, aber in die entgegengesetzte Richtung blickt. Dort hält vermutlich Maria Fürbitte für einen einzelnen Heiligen. Ebenso ungewöhnlich ist, dass die Präsentation der Stände, die ansonsten hier fast immer zu finden ist (etwa in der zeitgleich entstandenen MS Cod. 485 der ÖNB oder den Saalfelder Altar), auf fol. 18v fehlt. Man findet aber anderes, was ebenso selten ist: Rechts unten sieht man etwas graues Wasser ausfließen, was mir in einem Vortrag einmal als mittelalterliche Kanalisation gedeutet wurde. Das mag naheliegen, doch das Mittelalter kennt diese Ansprüche an Hygiene nicht. Es handelt sich vielmehr um den Lebensfluss, der hier bescheiden nach unten fließt, wo er die neue Schöpfung befruchtet, vorzugsweise den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis, der aus dem Paradies auch im Neuen Jerusalem wieder zu finden ist.
Zuletzt muss noch auf den Hintergrund eingegangen werden, zumal die Jerusalems-Architektur direkt an ihn stößt: Es handelt sich um ein vergoldetes Schachbrettmuster, mit roten und blauen Einsprengeseln. Dies war damals wenig innovativ, sondern längst aus der Mode gekommen. Beschäftigt man sich mit der Thematik, weiß man, dass seit dem Codex Palatinus Latinus 1969 (UB Heidelberg) oder Francais 1818 (BnF) solche Hintergrundmusterungen antiquiert waren. Diese und andere Besonderheiten im Vergleich zu den anderen Miniaturen von MS Germ qu 42 lassen den Schluss zu, dass wir es mit einer älteren Malerei zu tun haben, die in die Handschrift eingearbeitet wurde.
Wilhelmina van Bergen: De meesters van Otto van Moerdrecht, Amsterdam 2007.
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Beitragsbild: Staatsbibliothek zu Berlin, C. Bernet