Die Darstellungsweise des Motivs „Maria Immaculata“ war so beliebt, dass sie im Vergleich zum Marienlob von circa 1490 (MS Français 2225) fast unverändert noch zu Beginn des 16. Jh. bei spätmittelalterlichen Holzschnitten zur Anwendung kam. Bekannt wurde vor allem die Ausgabe „Hore intemerate beate Marie virginis“, ein Stundenbuch der Heiligen Jungfrau Maria, das 1502 (1503) bei dem Buchhändler und Verleger Thielman Kerver (gest. 1522) in Paris erschienen ist. Dieser hatte sich in der französischen Metropole auf kirchliche Stundenbücher spezialisiert. Die Ausgaben sind in unterschiedlichem Maße handkoloriert und waren sogleich ein riesiger Erfolg. Leider wissen wir nicht, welchem Künstler wir diesen Erfolg zu verdanken haben, da zu diesem Zeitpunkt schon Dutzende Mitarbeiter in Kervers Betrieb tätig waren. Kerver führte inzwischen auch Aufträge anderer Verlage aus. Eng arbeitete er mit Simon Vostre zusammen, der bald mit seinem eigenen Stundenbuch auf den Markt trat, da er am Erfolg Kervers partizipieren wollte.
Oben haben wir eine Gesamtansicht einer besonders prächtigen Ausmalung (fol. qi), die zahlreiche Symbole Mariens auf tiefblauem Grund mit weißen Spruchbändern zeigt. Diese bringen ihre Tugenden zum Ausdruck, wie ein Paradiesgarten, ein Brunnen, eine Rose oder ein Spiegel. Das Himmlische Jerusalem erscheint zwei Mal: Als zweitürmige Himmelspforte bzw. Himmelstür (Porta Celi, also Coeli) und als vielgestaltige Civitas Dei, da Maria nach katholischer Auffassung auch die erste Schutzpatronin der Gottesstadt ist. Links der Marienfigur befindet sich die „Porta Celi“ mit zwei Rundtürmen, zwischen die eine kleine geschlossene Pforte geschoben ist. Unten rechts steht die „Civitas Dei“. Es ist eine Stadt auf blauen Wolken, die teilweise die hohen, weißen Stadtmauern verdecken.
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Auch in der Folgeausgabe 1503 (1504) präsentieren bei unveränderter Gesamtkonzeption diese beiden Symbole das Himmlische Jerusalem. Weiterhin ist einer der beiden Türme der Pforte etwas kleiner und die Gottesstadt von Wolken umzogen. Diese Fassung wurde mit einer hellen Rottönung koloriert, was eine beliebte Möglichkeit war, ohne großen Aufwand den Illustrationen etwas Farbe zu verleihen.
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Dem Werk war ein großer Erfolg beschieden, von den zahlreichen Kopien werden sich nicht alle erhalten haben. Eine jedenfalls entstand um 1515 und ist heute als MS Richardson 10 Teil der Houghton Library in Cambridge. Hier ist es fol. 44v, welches die Mariensymbole zeigt. Der Illustrator kann der miniaturistischen Versuchung nicht widerstehen: Die Türme sind mit Fensterchen, mit Profilleisten und Zwischengeschossen ausgestattet, der freie Hintergrund wurde mit goldenen Sternen dekoriert, aus der Marienfigur heraus werden die Symbole jetzt golden bestrahlt.
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1517 erschien in Paris das „Missel à l’usage de Langres“, welches heute in der Stadtbibliothek von Chaumont aufbewahrt wird. Hier wurde auf fol. A3 erneut auf die Fassung Thielman Kervers von 1502/03 zurückgegriffen. Die goldene Farbe auf tiefblauem Hintergrund (Lapislazuli) macht einen luxuriösen Eindruck – nur wenige Fromme konnten sich eine solche Prachtausgabe leisten.
Claus Bernet: Maria Immaculata. Das katholische Jerusalem, Norderstedt 2014 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 14).
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Ein letztes Stundenbuch, welches die Mariensymbole in gewohnter Anordnung Kervers zeigt, erschien 1530. Es war einst im Besitz des Gelehrten Étienne Alleaume, später gelangte es in die Pariser Bibliothek Arsenal, schließlich in die Französische Nationalbibliothek. Das ganze Blatt ist weniger modern als seine Vorgänger, so ist der goldene Hintergrund von fol. 59r noch der Gotik verhaftet. Die Architektur ist schematisch, so sieht die Porta Coeli fast ebenso aus wie der Mittelteil der Civitas Dei. Biforienfenster, niedrige Türme und blaue Dächer kennzeichnen beide Bauten, die in einem golden-bordeauxroten Schriftband im Stil des 15. Jahrhunderts bezeichnet sind.
Trésors de la bibliothèque de l’Arsenal, Paris 1980.
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Im 19. Jahrhundert gab es vor allem in Frankreich Nachdrucke als Lithographien. Diese Werke machten das Stundenbuch einem weiten Publikum erstmals bildlich bekannt. Eine der Fassungen, „Officia propria Dioecesis Aniciensis“, entstand 1858 in Paris und wurde mehrfach nachgedruckt. Insgesamt ist das Fontispitz ein Komposit verschiedener Stundenbuch-Illustrationen, wobei aber die Anordnung der Symbole, ihre Darstellung und auch die lateinischen Schriftbänder zur Kerver-Fassung beibehalten wurde. Verzichtet wurde auf jegliche Kolorierung. Die Porta Coeli und die Civitas Dei ähneln am ehesten der Fassung von 1517, wobei die zwei identischen Helmtürme der Pforte eine moderne Erfindung sind. Nach seiner Karriere in Frankreich findet sich dieser Nachdruck auch in einem Messale Romano von 1943.
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