
Es ist eine Seltenheit, wenn sich eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit ausschließlich mit den Fenstern einer deutschen Kirche beschäftigt. Man denkt dabei vielleicht an die Kaiserdome am Rhein, den Berliner Dom, den Hamburger Michel oder die Münchner Frauenkirche – nicht unbedingt jedoch an die evangelische Nikolaikirche in Kieler Altstadt. An der Universität von Kiel wurde 2008 die Arbeit „Glasmalereien der Kieler Nikolaikirche“ vorgelegt, die Klarheit und neue Einsichten in die speziell schwierige Situation der Glasfenster dieser Kirche brachte. Denn: Die Kirchenfenster der Nikolaikirche sind, was das Neue Jerusalem angeht, eine Herausforderung und bieten einige Besonderheiten. Doch der Reihe nach: Im Mai 1944 wurde die mittelalterliche Kirche durch einen Fliegerangriff bis auf die Grundfesten zerstört. Alle historischen Fenster gingen dabei verloren. Was auf den vermutlich neogotischen Fenstern zu sehen war, ist Größtenteils verlorenes Wissen, Farbbilder dazu existieren nicht. Nach einer Diskussion, ob die Reste der Ruine nicht ganz abzutragen seien, um einen größeren Parkplatz am Alten Markt zu haben, erfolgte ab 1950 durch den Architekten Gerhard Langmaack der Wiederaufbau, der im Prinzip ein Neubau war. Dabei konnte die nordöstliche Backsteinmauer so in den Neubau integriert werden, dass exakt an den gleichen Stellen wieder Buntglasfenster eingesetzt werden konnten.
1956 war der Bau soweit fortgeschritten, dass die neuen Fenster eingesetzt werden konnten. Beauftragt wurde damit der Glasmaler Bremer Heinz Lilienthal (1927-2006), der zu dieser Zeit ein führender Künstler der damals noch vier evangelischen Landeskirchen in den Gebieten nördlich der Elbe war. Er gestaltete hier zunächst das Fenster „Der versinkende Petrus“ und später „Der Marsch durch das Rote Meer“ (1977). Weitere Fenster waren geplant, konnten aber nicht finanziert werden. Geblieben ist jedoch der Kontakt des Künstlers zur Kirchengemeinde über mehrere Pfarrer hinweg. 1986 kam es zur Vollendung. An der nordöstlichen Ecke des Hauptschiffes stehen sich zwei Fenster gegenüber, von denen man annehmen könnte, dass sie beide das Himmlische Jerusalem zeigen: Links zunächst eine traditionelle Taufszene auf drei Bahnen verteilt, in einem separaten Fenster darüber eine Stadt, von der man denken könnte (und auch lange Zeit dachte), dass dies das Neue Jerusalem sei.
Eine solche Verbindung, also von Taufe und Jerusalem, ist gelegentlich so vorzufinden (etwa in Rötenbach 1966 oder in der Mauritiuskirche in Ofterdingen 1987).
Rechts ist das Neue Jerusalem etwas markanter ins Bild gesetzt: goldgelbe Mauerzüge zeichnen sich ab, dazwischen immer wieder weiße Trapeze als Tore der Stadt. Sechs finden sich auf der linken Fensterhälfte, sechs weitere auf der rechten.
Das Ganze wird durch ein blaues Band zusammengehalten, was der Form eines Wassertropfens nachempfunden wurde. Darüber ist, wie in dem Tauffenster, ein separates Rundfenster gesetzt, in dem das Lamm Gottes gesetzt ist, von dem das Wasser seinen Ausgang nimmt. Diese Fensterkombination ist insofern eine Besonderheit, als dass im Schaffen des Künstlers Lilienthal in Kiel erstmals das Neue Jerusalem mit seinen zwölf Toren aufgegriffen wurde. In allen seinen Fenstern vor Kiel, etwa in der Christuskirche in Spradow, der Philippuskirche in Bremen-Gröpelingen oder der Auferstehungskirche in Weddinghofen, wird das Neue Jerusalem eher als goldgelbe Lichterscheinung thematisiert, stets zusammen mit dem Lamm oder Christus. Das Lamm hat Lilienthal hier in ein separates Fenster über die zwölf Tore gesetzt.
Die erwähnte Schrift zu den Glasmalereien der Kieler Nikolaikirche hat vor allem nachgewiesen, dass es sich bei dem anderen, gegenüber zu findendem Fenster keineswegs um das Himmlische Jerusalem handelt, auch nicht um die bekannte Taufe Jesu im Jordan, sondern um etwas anderes. Dargestellt ist die Taufe des Kämmerers aus Äthiopien, eine weniger bekannte Szene aus der Apostelgeschichte, bei dem der Apostel Philippus einen äthiopischen Kämmerer der Königin Kandake taufte, nachdem dieser den Glauben an Jesus Christus angenommen hatte. Indirekt hat es aber doch etwas mit dem Himmlischen Jerusalem zu tun: Mit dem Akt der Taufe gehört, gemäß der traditionellen Lehre, jeder Täufling in die Gemeinschaft der Heiligen und wird nicht allein der irdischen Kirche, sondern bestenfalls auch von der himmlischen Gemeinschaft im Neuen Jerusalem aufgenommen.
Johannes Lorentzen: 700 Jahre St. Nikolaikirche in Kiel, Breklum 1941.
Klaus Thiede: St. Nikolai in Kiel. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadtkirche, Kiel 1960.
Lutz Wilde: Die Nikolaikirche. Zur Baugeschichte und Ausstattung. In: Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde St. Nikolai (Hrsg.): Kirche in Kiel. 750 Jahre Kiel; 750 Jahre St. Nikolai, Neumünster 1991, S. 27-47.
Johannes Habich: Die Nikolaikirche in Kiel und das Kieler Kloster, München 2005 (5)
Amelie Caroline Harder: Die Glasmalereien der Kieler Nikolaikirche 1897-2007, Magisterarbeit Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 2008.
St. Nikolai in Kiel, Faltblatt, Kiel 2021.