Vor uns haben wir eine typische, aber kaum bekannte Illustration des Himmlischen Jerusalem, die bereits der Renaissance zuzuordnen ist. Die meisten solcher Illustrationen aus der Reformationszeit stammen aus Bibeleditionen, diese ist jedoch in einem dichterischen Werk gefunden worden.
Johannes der Seher und sein englischer Begleiter stehen hier auf einem Felsen links. Dieser ist mit wuchernden Gewächsen überzogen, wie man sie auch bei Hans Holbein d. J. oder Georg Lemberger finden kann. Kurios: der Engel deutet nach oben, aber das, um was es hier geht, findet sich unten.

Die Stadt ist annähernd quadratisch, von geraden Mauern umzogen, die mit Rundbögen geschmückt sind. Von den Toren werden drei gezeigt, in denen jeweils ein Engel steht. Im Inneren überrascht die Stadt mit viel Freifläche, die Häuser sind individuell gehalten, springen vor und zurück. Auffällig ist ein sich verjüngender Rundbau in der Mitte, von dem man entweder vermutlich die Schalen einer Kuppel oder (mit Fantasie) einen Springbrunnen vermuten kann.
Die Qualität eines Kupferstichs zeigt sich an der Personendarstellung; mit den unförmigen Händen, der unpassenden Toga des Engels oder den verkrümmten Zehen des Johannes wird deutlich: Hier musste schnell gearbeitet werden. Leider trifft das Phänomen der nachlassenden Qualität nicht nur diesen Holzschnitt. Das Blatt mit dem Neuen Jerusalem ist gewöhnlich das letzte Blatt, mit dem ein Druckwerk fertig war. Man gewinnt den Eindruck, dass manchmal die Künstler erschöpft waren, die Ideen ausgingen oder schlicht das Projekt unter Zeitdruck abgeschlossen werden musste. Ein Qualitätsvergleich von ersten mit letzten Werken einer Druckserie wäre ein lohnendes Forschungsvorhaben.
Wer den Holzschnitt auf fol. D6r angefertigt hat, ist nicht bekannt, vermutlich geschah es unter Vermittlung des Verlegers Henry Bynneman. Der Autor hatte weder die Kontakte noch die finanziellen Mittel für die kostspielige Ausstattung. Es handelt sich um Jan van der Noot (1539-1595), der 1569 in London den Band „A Theatre for Voluptuous Worldlings“ veröffentlichte. Der brabantischer Dichter und Calvinist war wenige Jahre zuvor aus Glaubensgründen aus Antwerpen nach England geflohen, wo er sich dichterisch frei ausleben konnte. Immerhin gilt er heute manchen als erster, vielleicht auch bedeutender Renaissance-Poet der Spanischen Niederlande. Seine Dichtungen waren stark religiös geprägt, das 15. und letzte Sonet von „A Theatre for Voluptuous Worldlings“ ist lediglich eine dichterische Fassung des biblischen Textes, wo er die Baumaterialien der Stadt preist:
„I saw new Earth, new Heauen, sayde Saint Iohn.
And loe, the sea (quod he) is now no more.
The holy Citie of the Lorde, from hye
Descendeth garnisht as a loued spouse.
A voice then sayde, beholde the bright abode
Of God and men. For he shall be their God,
And all their teares he shall wipe cleane away.
Hir brightnesse greater was than can be founde,
Square was this Citie, and twelue gates it had.
Eche gate was of an orient perfect pearle,
The houses golde, the pauement precious stone.
A liuely streame, more cleere than Christall is,
Ranne through the mid, sprong from triumphant seat.
There growes lifes fruite vnto the Churches good“.


