Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre gab es eine Tendenz im Sakralbau, das Himmlische Jerusalem durch vor- und zurückspringende Ziegelsteine im Altarbereich zur Darstellung zu bringen. Die Wirkung wurde gewöhnlich dadurch gesteigert, dass farblich unterschiedliche Ziegel benutzt wurden und die Altarwand selbstverständlich unverputzt blieb. Zudem betrachteten Theoretiker diese Vorgehensweise als besonders ehrlich oder authentisch, da man so die Konstruktion des Baues besser verstehen würde. Bekanntere Beispiele, die damals in Fachkreisen diskutiert wurden, waren Siegfried Assmanns Wandgestaltung in Schenefeld 1962 und natürlich Helmut Ammanns Variante für die Erlöserkirche in Würzburg-Zellerau (1964). Anfang der 1960er Jahre hatten sich Yelin und Amann bei einer Kirchenbautagung kennen gelernt, Ammann berichtete Yelin in zwei Briefen über sein Würzburger Bauvorhaben. Die dort eindrucksvolle Raumlösung spornte Yelin an, ähnliches zu versuchen. Allerdings waren die Voraussetzungen anders, denn die Veitskirche in Mainhardt war kein Neubau, sondern Yelin hatte auf den historischen Bestand Rücksicht zu nehmen. Der 1848 errichtete Bau gilt als die größte Dorfkirche Württembergs. Anfang der 1960er Jahre nahmen Überlegungen Gestalt an, die Räumlichkeiten durch den Einbau einer Zwischenwand im Altarbereich zu verkleinern. Durch die zwei alten Säulen bot es sich an, die künstlerische Gestaltung auf das Mittelfeld zu begrenzen: mit über 72 Quadratmetern immer noch eine gewaltige Aufgabe. Es war eine Lösung zu finden, die nicht kleinteilig sein sollte, sondern von unterschiedlichen Seiten, auch von den Emporen aus, als Geamtschau zu erfassen sein sollte. Beauftragt wurde damit Rudolf Yelin (1902-1991), der zu dieser Zeit unbestrittene Experte Württembergs für die Ausgestaltung evangelischer Gotteshäuser. Dennoch kam es zuvor zu einer intensiven Diskussion. Anlass waren nicht die Motive, über die man sich einig war und die Yelin ohne Diskussion vorgab, sondern die Art des Materials. Es gab Kritiker der Ziegelwand, was als „Import aus dem Ruhrgebiet“ oder „mehr für Großstädte als für den schwäbischen Wald passend“ in Frage gestellt wurde. Nachdem aber ein Spender die Kosten für die Ziegel („und kein anderer Baustoff“) in Aussicht gestellt hatte, war man sich einig.
Zunächst übernahm Yelin die angesprochene Dreiteilung, mit der er zuvor in Schömberg und Altensteig Erfahrung gesammelt hatte. Wie dort arbeitet Yelin in Mainhardt allein mit Symbolen und Zeichen, unter Verzicht auf lebende Figuren. Das war auch dem Material geschuldet, da sich Engel, Christus oder das Gotteslamm aus Ziegel nur sehr schwierig darstellen ließen.
Grundidee für das Mittelfeld ist das mittelalterliche Weltgericht, das Yelin in eine moderne Bildsprache übersetzte und frei interpretierte. Auch mit der christlichen Bildsprache weniger vertraute Besucher erkennen vielleicht das zentrale Kreuz, das in die Mitte gesetzt wurde. Dadurch stehen dem Künstler vier kleinere Flächen zur Verfügung: oben setzte er, wie etwa in St Thomas in Salisbury (um 1475) oder auf Ikonen den Mond (links) und die Sonne (rechts) ein, darunter (links) den Buchstaben Alpha und rechts das Omega. Weiter unten konnte die Fläche frei bleiben, da bekannt war, dass dort der Altar die Sicht verstellen würde. Die Gestaltung an den Seiten wurde von der Decke bis an den Boden ausgeführt; links ist der Baum des Lebens eingefügt. Heutige Bibelleser sind durch die Darstellungen aus der Reformationszeit geprägt, die diesen Baum stets als Laubbaum zeigen. In der spätantiken Lebenswelt war es natürlich eine Palme, und deren Palmblätter hat Yelin mit hellen Ziegelreihen eingesetzt. Der Lebensfluss, der mit dem Lebensbaum in Beziehung steht, ist in dem Wellenfries angedeutet, der im unteren Bereich an die rechts Seite führt. Dort finden sich die Tore Jerusalems, was man als das Lieblingsmotiv Yelins bezeichnen darf. Im Laufe der Jahre hat er immer wieder neue Kompositionen der Tore probiert, mal ineinender verschoben, mal isoliert stehend, mal offen, mal geschlossen, monochron, dann in Farbe. In Mainhardt sind es zwölf Tore, mit einer hellen gelben Rahmung und einer grauen Füllung. Da die Tore für das ungeübte Auge nicht leicht zu finden sind, habe ich sie in einer Collage sichtbar gemacht:
Die Ziegel sind nicht plan in die Wand gesetzt, sondern sie kragen zum Teil mehrere Zentimeter in den Raum. Das hat zur Folge, dass die Wand zu einer Skulptur wird, deren Plastizität vor allem durch den Schattenwurf gesteigert wird. Je nach Lichtverhältnissen kann die Ziegelwand in hellem Gelb bis zu dunklem Braunrot erscheinen. Diesen Effekt sieht man vor allem von den seitlichen Sitzplätzen, eine Aufnahme direkt vor der Steinwand kann den Effekt der auskragenden Ziegel nur bedingt wiedergeben:
Ausgeführt wurde die Wandgestaltung von Egon Lustner (1931-2012) und Martin Heilig (1938-2022), die unter Yelin ausgebildet wurden und später Karriere machen sollten, Lustner als Grafiker, Heilig als Maler. Sie orientierten sich dabei eng an das Wandbild der Georgskirche in Enzberg, welches sie zusammen mit Yelin ein Jahr zuvor aufgeführt hatten und wo man bereits die gleiche Konzeption wie in Mainhardt findet: links Baum, Mitte Kreuz, rechts Jerusalem.
Erich Schoch, Hans Riess: Evangelische Kirche Mainhardt: Festschrift, herausgegeben zur Einweihung der erneuerten und umgebauten evangelische Kirche in Mainhardt am Sonntag, dem 21. Oktober 1962.
Christa Birkenmaier (Hrsg.): Rudolf Yelin d. J., 1902-1991. Leben und Werk, Petersberg 2019.