Entwurfsskizzen und Entwurfszeichnungen werden dann zu Originalen, wenn das Objekt, auf das sich der Entwurf bezieht, nicht mehr vorhanden ist oder nie entstanden ist. Beides ist möglich bei einer Skizze, die einem rheinischen Meister zugeordnet wird. Schon der Begriff ist schwammig, dieser Meister kann aus so unterschiedlichen Städten wie Straßburg, Köln oder Rotterdam stammen, letztlich weiß man nichts genaues, ähnlich wie beim rheinischen Meister des Altenberger Altars. Vermutlich handelt es sich hier um einen Entwurf für ein Weltgericht, wie es vor allem bei Altären im 15. Jahrhundert Thema war, das bezeugen erhalten Werke von Hans Memling, der Meister der Blumenornamentik, der Meister von Sankt Severin, Michael Wolgemut, Hans Traut der Jüngere und viele andere. Jeder dieser Künstler kommt prinzipiell in Frage, denn es kaum möglich, markante, unverkennbare Handschriften in diesen Werken dieser Künstler auszumachen. Die Praxis war so, dass erstens die Künstler verschiedene Techniken beherrschten und zweitens in den Werkstätten wechselnde Gesellen, Gehilfen und mitunter auch weitere Meister arbeiteten, die selbstverständlich ihre Handschrift einbrachten.
Betrachten wir die Zeichnung unvoreingenommen: Im mittleren Bereich stehen zwei Figuren hinter einer Balustrade, es sind Petrus mit dem Schlüssel und ein Engel in einem auffälligen zackigen Gewand. Von unten nähern sich mindestens drei nackte Personen. Auffällig ist die erste, die anhand der Frisur als Mönch auszumachen ist. Die schlanke Gestalt, die Körperhaltung mit der Herausforderung, auf einem starren Medium Bewegung anzuzeigen und vor allem die Muskel- und Knochenpartien, die sich auf der Schulter ablesen lassen, belegen: Hier hatte jemand Interesse an Anatomie. Im oberen Bereich öffnen sich Fenster, Arkaden, Durchbrüche, in denen weitere Personen versammelt sind, die geretteten Bewohner und Bewohnerinnen des Himmlischen Jerusalem. Die Art der Flamboyant-Architektur, der Zackenstil der Gewänder und die lange Personenführung deuten auf das späte 15. Jahrhundert.
Mein Favorit: Gert van Loon, ein tendenziell unterschätzter Allround-Maler aus Niedersachsen. Von ihm ist der sogenannte Margarethenaltar aus dem Paderborner Dom. Auf diesem Werk finden sich viele der hier angesprochenen Merkmale. Offen bleiben muss allerdings noch die Frage, wie das Einzelblatt nach Paris gelangte, denn es befindet sich heute im Besitz der Französischen Nationalbibliothek (Inventarnummer B. 13 rés). Von dort kommt die Auskunft, es handele sich um eine Entwurfszeichnung für einen Weltgerichtsaltar.
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