Die römisch-katholische Kirche von St. Lorenzen im Pustertal (Tirol) besteht aus dem größeren Neubau und einem kleineren, barocken Altbau, der zur Unterscheidung zur Kirche als Kapelle bezeichnet wird. Diese 1714 neu geweihte Kapelle (die in ihrer Bausubstanz bis in das 15. Jahrhundert zurück reicht) diente der Adelsfamilie von Egerer als Gedächtniskapelle und nachher als letzte Ruhestätte, daher wird sie auch als Egererkapelle bezeichnet. Im Inneren befindet sich zahlreiche Kunstwerke mit einem thematischen Bezug zu dem Themenkreis Tod, Gericht und ewiges Leben. An der Nordwestseite, direkt über dem Ein- bzw. Ausgang der Kapelle, findet man eine 3 x 1,5 Meter große Darstellung des Jüngsten Gerichts, auf dem oben links das Himmlische Jerusalem eingefügt ist. Es ist hier als ein Triumphbogen dargestellt, dessen mittlerer Durchgang etwas höher und breiter als die seitlichen ist. Beachtung sollten die kunstvoll gedrehten Säulen finden, die an gedrechseltes Schnitzwerk angelehnt sind, wofür das Pustertal bekannt war. Die golden erscheinenden Mauern gehen nach links in den gleichfarbigen Hintergrund über. Vor wie auch hinter den drei Torbögen nehmen fliegende Engel die ankommenden Menschen in Empfang, assistiert von der Petrusfigur rechts mit dem markanten Schlüssel. Hier wie auch im übrigen Bildaufbau folgt das Gerichtsbild ganz seinen mittelalterlichen Vorläufern: Christus erscheint in der Mitte, umgeben von zahlreichen Heiligen. Die geretteten Menschen bewegen sich von unten nach links oben. Unten wird die Auferstehung von den Toten gezeigt, indem aufgebrochene Särge an die aufgebrochenen oder weggesprengten Himmelstüren erinnern, die ja ebenfalls im endzeitlichen Kontext gerne dargestellt wurden (vornehmlich in der Ostkirche). Rechts hingegen ist die Seite des Todes und der Verdammnis, hier quälen und foltern Monster unglückselige Menschen, deren Blicke zum Himmlischen Jerusalem gerichtet sind – es ist jedoch zu spät.
Vermutlich entstand die Malerei für einen Michaelsaltar, denn dieser Heilige ist mit seiner Seelenwaage prominent in Szene gesetzt (vgl. den Aufbau des Lendersdorfer Altars von 1525 und den Michaelsaltar in St. Nikolaus in Brauweiler von 1561). Die Arbeit stammt wahrscheinlich aus der Werkstatt von Jörg Stieger, der auch andere Werke für die Kapelle geschaffen hat. Das war um 1720. Lange war das Gerichtsbild von Ruß überzogen, so dass ich es bei meinem ersten Besuch in der düsteren Kapelle damals kaum erkennen konnte. Die farbenfrohe Malerei erstrahlt Dank einer 2001 erfolgten Restaurierung wieder in vollem Glanz wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts, so dass sogar die deutschsprachigen Texte zu dem Thema Erlösung und Verdammnis wieder lesbar sind.
Hubert Stemberger, Albert Steger: St. Lorenzen im Pustertal. Kleiner geschichtlicher und kunstgeschichtlicher Führer durch die Marktgemeinde, St. Lorenzen 1991.
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