Eine französischsprachige Ausgabe der „Pélerinage de la vie humaine“ von Guillaume de Digulleville wurde 1499 in Paris mit Miniaturen ausgestattet. Es ist die letzte Pélerinage des 15. Jahrhunderts und eine der letzten Ausgaben der Pélerinage überhaupt. Heute befindet sich die mittelalterliche Pretiose in der kalifornischen Huntington Library in San Marino. Hinter der Signatur MS RB 103394 verbirgt sich ein spätmittelalterliches Manuskript mit gut 150 Seiten, welches einst von dem Verleger Antoine Vérard für den englischen König Heinrich VII. angefertigt wurde. An ihr waren mit Sicherheit erfahrene und talentierte Illustratoren beteiligt, die Miniaturen glänzen vor allem durch ihre Farbenpracht.
Das gilt auch für fol. 4r, welche uns ein Doppelbild zeigt, mit dem diese Literaturgattung gemeinhin ihre Illustrationen eröffnet. Links liegt der Pilger in seinem Bett. Im Gegensatz zu fast allen anderen mir bekannten Ausgaben der Pélerinage wird er hier nicht beim Schlafen gezeigt, sondern er ist beim Beten und sieht mit offenen Augen, was sich vor seinem Bett ereignet. Dort müsste eigentlich der Spiegel zu sehen sein, doch dieser war schon seit geraumer Zeit aus der Mode gekommen. Stattdessen präsentiert sich rechts das Himmlische Jerusalem als zeitgenössisches französisches Schloss. In diese Darstellung Jerusalems wurden auch Szenen hineingenommen, die andere Fassungen zuvor als einzelne Miniaturen brachten. So erkennt man links und rechts Mönche, die mittels Leitern versuchen, in die Stadt zu gelangen. In der Mitte versucht es der Mönch eines anderen Ordens mit einer Kordel, die von einem Mönch oben gezogen wird.
Eine Besonderheit ist die geschwungene Brücke über den Lebensfluss. Sie schlängelt sich direkt zum Haupttor, wo Petrus gemeinsam mit einem roten Engel den Eingang bewacht. Eine derartige Betonung des Zugangs nach Jerusalem war ein Zeitphänomen, man findet ähnliches auf Fresken zuvor in Sillegney, in Vadum oder in Hjembaek.
Claus Bernet: Die Spiegelvision des Guillaume de Digulleville, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 35).