
Canon-Apokalypse (um 1320-1330) bzw. Crowland-Apokalypse (um 1330)
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Claus Bernet
- September 14, 2021
Die Bodleian Library zu Oxford besitzt eine ganze Anzahl bedeutender Apokalypsehandschriften – bezüglich des 14. Jahrhunderts steht MS Canon. Bibl. Lat. 62 mit ihrer Qualität wohl an erster Stelle. Sie wurde zwischen 1320 und 1330 in Peterborough angefertigt, dem unbestrittenem Zentrum englischer Illustrationskunst. Wie in vielen anderen Apokalypsen zuvor wird auch in der Canon-Apokalypse die Gottesstadt auf drei Miniaturen traditionell abgehandelt. Diese drei Szenen auf fol. 37v, 38r und 38v sind in der Geschichte der Repräsentation des Himmlischen Jerusalem oft, wenn nicht gar am meisten, dargestellt worden: das Niederschweben der Stadt, das Ausmessen ihrer Proportionen als Kubus und zuletzt das Ausgießen des göttlichen Geistes durch den Lebensfluss. Bei allen drei Bildern nimmt an der linke Seite der Seher Johannes eine hervorgehobene Position ein.
Umreiht von zierlichen Wölkchen schwebt auf der ersten Miniatur die Gottesstadt in Form einer gotischen Kirche hernieder. Johannes betrachtet konsterniert das Geschehen, doch der Engel aus der Stadt weist nach oben. Die folgende Miniatur fol. 38r zeigt links erneut den Engel und Johannes, die sich auf die Stadt rechts im Bild zubewegen. Die zwölf Tore sind in Dreierreihen eines kubischen Baus zu sehen. Keines ist geöffnet, man sieht von allen Toren die äußeren Scharniere. Und nicht nur das: Es ist eine der wenigen Darstellungen, die alle Tore mit Schlössern zeigt, als solle damit gesagt werden, dass diese Stadt wie eine Schatzkiste abgeschlossen ist – nur Petrus, der allerdings hier nicht zu sehen ist, hat den oder die passenden Schlüssel. Eine Besonderheit sind auch die beiden Bäume: wenn es der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis sein sollten, so müssten sie sich in der Stadt befinden. Die letzte Miniatur zeigt die Stadt wieder wie zuvor als Kirche bzw. Tempel, der hier von Johannes – und nicht, wie es die Bibel und die Tradition es vorgeben, vom Engel – vermessen wird. Die Stadt wird vom Fluss des Lebens durchzogen. Dieser entspringt in einer Mandorla mit Christus und dem Lamm. Die Bedeutung einer weiteren, kleineren Kirche unter der Mandorla links bleibt unklar – vielleicht ist es die irdische Kirche, die nun in den Fluten untergeht.
Das Himmlische Jerusalem auf fol. 38r ähnelt sehr dem Pendant von Arsenal MS 5214. Beide Handschriften haben ihr gemeinsames Vorbild vermutlich in MS Tanner 184, wo erstmals in einem Zyklus Jerusalem in einer derartigen Kubatur dargestellt ist. Alle drei Miniaturen basieren auf Blau- und Rottönen. Das wird besonders bei der kunstvollen Rahmung deutlich. Hier wechseln sich rote mit blauen Balken ab, in den Ecken sind jeweils goldene Quadrate gesetzt – eine Rahmung und Ornamentierung, die eindeutig von Arsenal MS 5214 kopiert wurde.
Eine schnell angefertigte Kopie der Canon-Apokalypse hat den Namen die Crowland-Apocalypse. Auf Details wird wenig Wert gelegt, zum Beispiel bei der Stadterscheinung der mittleren Miniatur (fol. 38r): die kunstvollen Schlösser sind verschwunden, die Tore sind bloße schwarze Vierecke. Der Miniaturlist hatte auch von der Zahlensymbolik keine Ahnung; statt wie auf der Vorlage 12 finden sich nun 16 Tore. Eigenartig ist auch der Boden unter der Stadt: Aus der Felsenlandschaft der Vorlage ist ein braunes Netz geworden, das fast die Hälfte des Bildes einnimmt. Es fällt auch auf, dass die gotischen Stilanklänge gestrichen wurden, vor allem bei den Bauten der ersten und letzten Miniatur. Vermutlich hatte der Illustrator für so etwas schlicht keine Zeit. Mehr Sorgfalt wendete er auf die Figuren, die durchaus mit der Canon-Apokalypse konkurrieren können.
Die Kopie entstand um 1330 und befindet sich im Cambridger Magdalene-College unter der Signatur MS F.4.5, fol. 37v, 38r und 38. Das letzte Blatt lehnt sich auch an MS Tanner 184, fol. 76, an, der Miniaturist dieser Apokalypse schöpfte also aus mehreren Quellen.
Muriel A. Whitaker: Pearl and some illustrated Apocalypse manuscripts, in: Viator, 12, 1981, S. 183-196.
Stella Panayatova (Hrsg.): The Cambridge illuminations: The conference papers, London 2007.