Die Bodleian Library zu Oxford besitzt eine ganze Anzahl bedeutender Apokalypsehandschriften – bezüglich des 14. Jahrhunderts steht MS Canon. Bibl. Lat. 62 mit ihrer Qualität wohl an erster Stelle. Sie wurde zwischen 1320 und 1330 in Peterborough angefertigt, einem Zentrum englischer Illustrationskunst. Wie in vielen anderen Apokalypsen zuvor wird auch in der Canon-Apokalypse die Gottesstadt auf drei Miniaturen traditionell abgehandelt.
Diese drei Szenen auf fol. 37v, 38r und 38v sind in der Geschichte der Repräsentation des Himmlischen Jerusalem oft, wenn nicht gar am meisten, dargestellt worden: 1. das Niederschweben der Stadt, 2. das Ausmessen ihrer Proportionen und zuletzt 3. das Ausgießen des göttlichen Geistes durch den Lebensfluss. Bei allen drei Bildern nimmt an der linken Seite der Seher Johannes eine hervorgehobene Position ein, er ist quasi das Qualitätssiegel einer zuverlässigen und korrekten Wiedergabe.Umreiht von zierlichen Wölkchen schwebt auf der ersten Miniatur die Gottesstadt in Form einer gotischen Kirche hernieder. Johannes betrachtet konsterniert das Geschehen, doch der Engel aus der Stadt weist nach oben. Die folgende Miniatur fol. 38r zeigt links erneut den Engel und Johannes, die sich beide auf die Stadt rechts im Bild zubewegen. Die zwölf Tore sind in Dreierreihen eines kubischen Baus zu sehen, ähnlich wie zuvor in der Lambeth Apokalypse und in Arsenal MS 5214. Beide Handschriften haben ihr gemeinsames Vorbild vermutlich in MS Tanner 184, wo erstmals in einem Zyklus Jerusalem in einer derartigen Kubatur dargestellt ist.Bei der Canon-Apokalypse ist keines der Tore geöffnet, man sieht von allen die äußeren Scharniere. Und nicht nur das: Es ist eine der wenigen Darstellungen, die alle Tore mit Schlössern zeigt, als solle damit gesagt werden, dass diese Stadt wie eine Schatzkiste definitiv abgeschlossen ist – nur Petrus, der allerdings hier nicht zu sehen ist, hat den oder die passenden Schlüssel. Eine Besonderheit sind auch die beiden Bäume: Wenn es der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis sein sollten, so müssten sie sich in der Stadt befinden. Traditionell grünt und wächst es eigentlich erst auf der nächsten, dritten Miniatur. Die letzte Miniatur zeigt die Stadt wieder wie zuvor fol. 38r als Kirche bzw. Tempel, der hier von Johannes – und nicht, wie es die Bibel und die Tradition vorgeben, vom Engel – vermessen wird. Das ist nun das Ergebnis, dass schon seit geraumer Zeit Johannes als Pilger mit Stock gezeigt wird und der Buchmaler durcheinander gekommen ist. Die Stadt wird vom Fluss des Lebens durchzogen. Dieser entspringt in einer Mandorla mit Christus und dem Lamm. Die Bedeutung einer weiteren, kleineren Kirche unter der Mandorla links bleibt unklar, man findet dieses Detail auf keiner anderen englischen Apokalypse des Mittelalters – vielleicht ist es die irdische Kirche, die nun in den Fluten untergeht.
Alle drei Miniaturen basieren auf Blau- und Rottönen. Das wird besonders bei der kunstvollen Rahmung deutlich. Hier wechseln sich rote mit blauen Balken ab. In den Ecken sind jeweils goldene Quadrate gesetzt – eine Rahmung und Ornamentierung, die eindeutig von Arsenal MS 5214 kopiert wurde.
Eine schnell angefertigte Kopie der Canon-Apokalypse hat den Namen Crowland-Apocalypse. Auf Details wurde hier weniger Wert gelegt, zum Beispiel bei der Stadterscheinung der mittleren Miniatur (fol. 38r): Die kunstvollen Schlösser sind verschwunden, die Tore sind bloße schwarze Vierecke, die eigenartig mit den Felsen korrespondieren, die sich auch in Felder aufzulösen scheinen. Aus der Felsenlandschaft der Vorlage ist ein braunes Netz geworden, das fast die Hälfte des Bildes einnimmt. Der Miniaturist hatte auch von der Zahlensymbolik keine Ahnung. Statt wie auf der Vorlage zwölf finden sich nun 16 Tore. Es dauerte Jahrhunderte, bis dieser Fehler wieder passierte (auf einer Zeichnung von Hendrik Wiegersma und in der Klosterkirche Haselünne). Es fällt auch auf, dass die gotischen Stilanklänge gestrichen wurden, vor allem bei den Bauten der ersten und letzten Miniatur. Vermutlich hatte der Illustrator für so etwas schlicht keine Zeit. Mehr Sorgfalt verwendete er auf die Figuren, die durchaus mit der Canon-Apokalypse konkurrieren können. Durch das Weglassen und Konzentration auf das Wesentliche werden die Gegenstände zu Symbolen und bewegen sich hin zu abstrakter Malkunst im Hochmittelalter.
Die Kopie entstand um 1330 und befindet sich im Cambridger Magdalene-College unter der Signatur MS F.4.5, fol. 37v, 38r und 38. Das letzte Blatt lehnt sich auch an MS Tanner 184, fol. 76, an, das erste erinnert an fol. 36v von MS B 10. 2. Fazit: Der Miniaturist dieser Apokalypse schöpfte aus mehreren Quellen als nur aus der biblischen Textvorlage.
Muriel A. Whitaker: Pearl and some illustrated Apocalypse manuscripts, in: Viator, 12, 1981, S. 183-196.
Stella Panayatova (Hrsg.): The Cambridge illuminations. The conference papers, London 2007.