Kalkar am Niederrhein reiht sich ein in die Städte, deren Rathaus mit einem Tafelbild des Jüngsten Gerichts ausgestattet war, die bekanntesten sind vielleicht Lüneburg, Diepholz und Basel. Diese Gerichtsbilder sollten alle Anwesenden anspornen, Gerechtigkeit walten zu lassen, und etwaige Zeugen zur Wahrheit ermahnen. Soweit die Theorie.
Das Exemplar von Kalkar hing einst in dem Raum in der Ratsstube, in dem Gericht gehalten wurde. Später gelangte es an seinen heutigen Aufbewahrungsort im Stadtmuseum. Dort wurde es 2017 mit Unterstützung durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft restauriert und ist seitdem das vielleicht wichtigste Ausstellungsstück im ersten Stock. In Kalkar kennen wir den Maler der Tafel: Es war Rütger Krop aus Kalkar, der ziemlich genau um 1554 dieses Renaissancekunstwerk anfertigte. Ein richtiger Meister war er nicht, eigentlich kennt man kaum weitere seiner Werke, er wird eher ein Handwerker mit Bürgerstatus gewesen sein, der ansonsten für andere betuchte Bürger Wohnungen oder Geschäftshäuser ausmalte. Sein Weltgericht im Auftrag des Stadtrats ist also bereits sein Hauptwerk, und es gibt erheblichen Diskussionsbedarf:
Ungewöhnlich (vgl. dazu den Meister der Blumenornamentik) ist bereits, dass der Zugang in das Himmlische Jerusalem durch eine dorische Säule zweigeteilt ist, denn eigentlich wird ja stets der eine, enge Zugang in die Stadt betont. Hier erscheint der Zugang fast wie eine Drehtür, auf der es an der anderen Seite wieder nach draußen geht! Vielleicht, aber das wäre versteckt, soll hier auf das Alte und Neue Testament als die beiden Grundfesten des Christentums verwiesen werden. Bei den Personen vor dem Doppeltor zeigt Krop sein ganzes Können: Auffällig sind die dramatischen Gesten, mit denen die nackten Menschen auf einer kunstvollen Steintreppe sich dem Eingang nähern, hier wird sich umarmt und mit erhobenen Händen auf die Knie gefallen.
Die Nackten sind nicht irgendwer, auch nicht die Vertreter von mittelalterlichen Ständen, wie wir es von anderen Weltgerichten dieser Zeit her kennen. Im Gegenteil, Rütger Krop zeigt ganz bestimmte Heilige aus dem Alten wie Neuen Testament: Vorneweg marschieren Adam und Eva, mit denen alles begann und alles endet. Ihnen folgt Noah, der an der Arche zu erkennen ist, dann Abraham mit dem Opferlamm. Etwa in der Mitte steht ein stattlicher Nackter mit zwei Tafeln: Es ist Moses mit den Gesetzestafeln. Der ältere Herr mit der Krone ist König David, der die Harfe gegen seine Depressionen einsetzt. Weiter rechts steht noch ein weiterer Heiliger, der uns sein Hinterteil zuwendet: Mit seinem Kreuz ist es Johannes der Täufer, die einzige männliche Figur aus dem Neuen Testament. Vor ihm kniet eine nach Eva zweite (und letzte) Frau: vermutlich Maria Magdalena als Büßerin. Petrus, der traditionellerweise an dieser Stelle die Ankommenden in Empfang nimmt, fehlt auf dieser Darstellung. Dafür ist ein adipöser Putto über die Szene gesetzt, der die Aufgabe hat, mit einer Posaune das Jüngste Gericht einzuleiten.
Kommen wir zur Architektur, dem eigentlichen Problem der Darstellung. Die asymmetrische Architektur des Neuen Jerusalem hat ihre Besonderheiten, schon diese an sich ist eher selten, denn eigentlich ist die Hölle der Ort von Chaos und Asymmetrie, während ein Himmlisches Jerusalem gerade in der Renaissance überwiegend in wohlproportionierten Formen dargestellt wird; Meister der Claude de France (1510), Gesta Romanorum (1521), Natale Bonefacio (1588). Der linke Turm wurde mit einem lateinischen Kreuz bekrönt, ein anderer mit einem Halbmond. Das ist und war auch im 16. Jahrhundert die typische Bekrönung einer Moschee, während nur Kirchen mit einem lateinischen Kreuz oder einem Hahn bekrönt sind. Ganz selten gab es auch Kirchentürme mit Halbmonden, was aber begründet werden musste. Auch ist der Mond, wenn er schon auf dem Kirchturm zu finden ist, stets durchstoßen, um anzudeuten, dass das Christentum über dem Islam stehen würde. Zeitgenössische Darstellungen des Himmlischen Jerusalem, wo der Halbmond-Turm den Kreuzesturm sogar noch überhöht, kenne ich nicht, und auch am Niederrhein hat es in der Mitte des 16. Jahrhunderts so etwas nicht gegeben.
Erklärungsbedürftig ist auch ein Dämon, direkt unter dem fetten Putto, der wie ein teuflischer Dachreiter aussieht, wie man es von gotischen Kathedralen her kennt. Er blickt in einen Spiegel und ist damit ein Vanitas-Symbol, wie es in der Renaissance gerne thematisiert wurde. Nur gehört diese Thematisierung der Superbia, die schließlich eine der Todsünden ist, auf die Höllendarstellung der anderen Seite. Fazit: Rütger Krop, der hier das Himmlische Jerusalem vermutlich zum ersten und letzten Mal in seiner Karriere darstellte, war mit der Ikonographie des Gegenstandes überfordert. Er ist bei der Darstellung des Neuen Jerusalem durcheinander geraten und hat in seiner Liebe zum Detail manche Einzelheiten an die falsche Stelle gesetzt. Muss man diese Fehler einem lokalen Malermeister vorwerfen? Sicher nicht, denn in der Ausführung ist die Ölmalerei durchaus ein Meisterwerk. Eigenartig erscheint mir, dass die angesprochenen Besonderheiten bis heute unbemerkt blieben, als wären bei den vielen Rats- oder Gerichtssitzungen keine Theologen anwesend gewesen, auch in der langen Erklärungstafel des Museums zu diesem Werk wird auf diese Besonderheiten, die diese Arbeit doch gerade auszeichnen, nicht eingegangen.
Georg Mestwerdt: Verzeichniss und kurze Beschreibung der Sammlung von Alterhumsgegenständen im Rathaus der Stadt Cleve, Cleve 1877.