Johann Ulrich Kraus (1655-1719) war ein Meister der Vielfalt und wahrer Alleskönner; er war in der Lage, Themen in ganz unterschiedlichen Stilen zu liefern. Als anerkannter Kupferstecher kam er um das große Thema Neues Jerusalem natürlich nicht herum: Erstmals präsentierte er diesen Gegenstand 1694 in dem Werk „EngelsKunstwerk“ in einer Kartusche im barocken Stil. 1706 legte er in zwei Teilen das Werk „Augen- und Gemüthslust“ vor, welches gleichfalls zwei Mal das Himmlische Jerusalem enthält. Beide Arbeiten würde man heute als Plagiat anprangern; einmal ist es ein Stich nach Juan Bautista Villalpando, ein andermal eine Kopie aus der Mortierbibel, was Kraus ganz unverfroren mit seinem Namen unterzeichnete – wie hätte er auch wissen können, dass hunderte Jahre später Wissenschaftler mit digitalen Möglichkeiten solche Kopien leicht aufdecken können? Vielleicht wäre es ihm aber auch egal gewesen.
Zwischen dem „EngelsKunstwerk“ und der „Augen- und Gemüthslust“ erschien im Jahr 1705 in Augsburg der fünfte und letzte Teil der „Historischen Bilder-Bibel“; vielleicht das Hauptwerk von Johann Ulrich Kraus. Auf Seite 135 findet man das Himmlische Jerusalem, von einer mächtigen Gloriole überhöht. Ganz links sind noch Johannes und der Engel auf einem Berg zu sehen, überraschend klein und akzidentiell, wenn man an die vielen Arbeiten denkt, die zuvor die beiden Figuren überhöht in Übergröße zeigten. Bei der Stadt dominieren geometrische Strukturen, wie sie im frühen 18. Jahrhundert auch beim Schlossbau oder der barocken Gartengestaltung vorzufinden sind. Die Tore stehen offen, die Wege zur Stadtmitte führen zu einem Zionsberg in Miniatur, bekrönt vom Lamm Gottes. Ebenso wichtig wie die Stadt ist hier die imposante Gloriole mit dem Thron Gottes. In konzentrischen Kreisen spiegelt sie übrigens die Kreise der Stadtmitte um den Zionsberg unten mit der Gloriole oben – ein genialer Einfall, der zur großen Suggestivkraft dieses Kupferstichs beiträgt.
Otto Reichl: Die Illustrationen in vier geistlichen Büchern des Augsburger Kupferstechers Johann Ulrich Krauss, Straßburg (1933).
Wolfgang Augustyn: Johann Ulrich Kraus als Unternehmer im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Frühneuzeit-Info, 32, 2021, S. 74-87.