Das Tympanon am Südwestportal der Frauenkirche in Esslingen am Neckar wurde fertiggestellt, als von 1400 bis 1419 der Baumeister Ulrich von Ensingen (um 1350-1419) den Kirchenbau fortführte. Ulrich Ensinger (auch Ulrich von Ensingen oder Ulricus Fissingen de Ulme) war ein Baumeister der süddeutschen Gotik, er war auch am Ulmer Münster, am Mailänder Dom, am Straßburger Münster, am Basler Münster und am Frankfurter Kaiserdom beteiligt. In Esslingen vollendete er das Langhaus und erbaute das Weltgerichts- und das Georgsportal, wie auch den Unterbau des Turms. Das Tympanon in vier Meter Höhe über der Doppelflügelanlage zeigt eine herkömmliche Weltgerichtsszene mit einer Gruppe Geretteter, die in Richtung Himmelspforte nach links streben. Vorangestellt ist ihnen Petrus, der gerade eine Tür mit schweren Beschlägen öffnet. Diese, die an einen Tresor erinnert, ist schräg gestellt, und an ihrer Längsseite wandelt sie sich zu einem blockartigen, gedrungenen Haus, aus dem mehrere Gerettete herausschauen – ein Motiv, welches vor allem in Frankreich beliebt war, etwa in Meaux oder in Saint-Sulpice. Der Block erinnert gleichzeitig an einen Fegefeuerofen, der nach mittelalterlicher Vorstellung vor dem Eintritt in das Himmlische Jerusalem durchlitten werden musste.
Das Problem, das Himmlische Jerusalem auf einem Tympanon darzustellen, ist immer ähnlich: Traditionell befindet es sich an der äußeren, linken Seite. An diesem Zwickel ist aber kaum Platz, eine hohe, eindrucksvolle Stadt mit Türmen und Toren zu platzieren. So muss man lediglich mit einer einfachen Himmelspforte als Notlösung pars pro toto Vorlieb nehmen.
Hans Vollmer: Ensingen, Ulrich von, in: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, 10, 1914, S. 563-565.
Walter Supper: Die Portalplastiken der Esslinger Frauenkirche, Esslingen (1950).
Birgit Hahn-Woernle: Die Frauenkirche in Esslingen, Esslingen 1997.
Ulrich Knapp, Karin Reichardt, Marc Carel Schurr: Die Esslinger Frauenkirche, Esslingen am Neckar 1998.