Albrecht Dürer (1471-1528): Jerusalem als Ruinenstadt und als Himmelspforte (1498)
Die später weltbekannte Serie „Apocalipsis cum figuris“ entstand stückweise in den Jahren von 1496 bis 1498. Albrecht Dürer war damals gerade einmal 25 Jahre alt. 1498 erschienen in Nürnberg zwei Ausgaben der Apokalypse mit den von Dürer gefertigten Bildern, eine in deutscher und eine in lateinischer Sprache. Es war Dürers erste große Holzschnittfolge, die nach seiner Italienreise entstand und die intime Kenntnis der Arbeiten von Michael Wolgemut (1434-1519), Martin Schongauer (um 1445/1450-1491) und Andrea Mantegna (1431-1506) voraussetzen lässt.
Alle Blätter sind unübersehbar mit dem Anagramm „AD“ signiert. Auf der Rückseite der Blätter ist der Text der Offenbarung abgedruckt. Bekannt ist die Zeichnung vor allem als einfarbiges Blatt, aber selbstverständlich gibt es auch kolorierte Fassungen, wie hier aus der Houghton Library in Cambridge.
Mit Dürer beginnt wirklich etwas Neues. Die Zeit der Miniaturdarstellungen ist vorüber und wird von Holzschnitten, bald von Kupferstichen abgelöst. Und hier gelingt es Dürer sogleich, einen Holzschnitt in höchster Qualität zu liefern. Die Abbildung des Neuen Jerusalem nach Dürer ist uns heute so vertraut, weil sie häufig nachgedruckt wurde. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass Dürer mit seinen freien Entwürfen eine Tradition in den Bibelausgaben der angehenden Reformationszeit begründen konnte oder wollte.
Dürer verknüpfte zwei ansonsten fast immer getrennte Szenen zu dem gemeinsamen Abschlussbild 14 seiner Serie: Das Niederkommen des Himmlischen Jerusalem (Johannesoffenbarung Kap. 21) und die „Bindung Satans und Tausendjähriges Reich“ (Johannesoffenbarung Kap. 20), nach der dieses Blatt auch den Titel „Der Teufel wird für 1000 Jahre gefesselt“ bekommen hat.
Rechts vorne sorgt ein Engel dafür, dass der Teufel für tausend Jahre in einem Loch verschwindet. Ein zweiter Engel zeigt Johannes das Neue Jerusalem. Wenn nicht in einem der Tore ein dritter Engel stünde, würde man die Stadt kaum für Jerusalem halten. Sie wurde fast vollständig desakralisiert und zeitgenössischen Stadtansichten angeglichen, so dass man annimmt, Dürer hatte hier Nürnberg zum Vorbild. Höhepunkt und Ironie ist eine Turmruine neben dem Eingangstor, die die Stadt sogar ärmlich und ruinös darstellen lässt. Eine Stadtmauer ist kaum zu erkennen, und nach hinten scheint die Stadt in einen Wald überzugehen. Vor allem fehlt Christus in der Stadtmitte. Während ansonsten am Himmel Engel oder zumindest eine Gloriole auf die Heiligkeit verweisen, ziehen hier lediglich ein paar verirrte Vögel entlang. Gerade eine solche Nebensächlichkeit wurde geradezu begierig aufgenommen, man findet den Vogelschwarm dann plötzlich bei Hans Holbein und bei den Zwinglibibeln, bei französischen Bibeldrucken oder bei MS Typ 252 (1510). Was damit gemeint sein soll, weiß niemand.
Über keine deutsche Darstellung des Himmlischen Jerusalems ist so viel gerätselt worden wie über die in Dürers Apokalypsezyklus, sie wurde kosmologisch-esoterisch, sozialrevolutionär und dann wieder frühreformatorisch gedeutet. Viel Unsinn ist allerdings auch darunter. Eine besondere Kuriosität ist die Schrift „Schwert aus Gottes Mund: 14 Kriegsblätter zu Dürers Apokalypse“, mit der der Nationalsozialist Siegfried von der Trenck (1882-1951) die Soldaten an der Front künstlerisch erbauen wollte.
Kaum bekannt ist, dass es innerhalb dieser Serie ein weiteres Bild gibt, welches ebenfalls das Himmlische Jerusalem thematisiert, nämlich in Form einer Himmelspforte. Es findet sich bereits auf dem zweiten, 39 x 28 Zentimeter großen Holzschnitt der Serie. Das eigentliche Thema sind die vierundzwanzig Ältesten um den Thron Gottes im Himmel nach Apokalypse Kap. 4, Vers 1-10 und 5, 1-8. Links und rechts am Bildrand sind die geöffneten, hölzernen Türflügel des gewaltigen Himmelstors zu sehen. Von Flügel zu Flügel spannt sich ein Bogen aus Steinquadern, so dass der gesamte obere Bildinhalt in eine weit geöffnete Himmelspforte eingefasst ist.
Albrecht Dürer hat die visionären Inhalte – also das Lamm mit seinen sieben Hörnern und sieben Augen, die vier mit Augen übersäten Gestalten mit sechs Flügeln – so real wie möglich dargestellt. Johannes der Seher kniet davor auf einer Wolkenbank, einer der vierundzwanzig Ältesten wendet sich ihm zu. Alle vierundzwanzig Personen sind individuell ausgestaltet: Sie unterscheiden sich in Physiognomie, Kleidung und Haltung, sogar ihre Kronen sind unterschiedlich. Die ruhige und friedliche Landschaft im unteren Drittel des Bildes steht in scharfem Kontrast dazu – noch ist nichts von den endzeitlichen Katastrophen zu bemerken, die demnächst auf die Schöpfung hereinbrechen werden. Die Vedute zeigt aber bereits Ähnlichkeit des noch folgenden Hauptbildes des Neuen Jerusalem, wenngleich die Engel an den Toren der Stadt hier noch weggelassen wurden.
Rudolf Chadraba: Politische Sinngehalte in Dürers Apokalypse, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 12, 1, 1963, S. 80-105.
Franz von Juraschek: Albrecht Dürer – Die Apokalypse als Herausforderung, Nürnberg 1970.
Werner Körte: Albrecht Dürer. Die Apokalypse des Johannes, Stuttgart 1971 (4).
Alexander Perrig: Albrecht Dürer oder die Heimlichkeit der deutschen Ketzerei, Weinheim 1987.
Jérôme Cottin: L’Apocalypse de Dürer, in: Jean Burgos (Hrsg.): L’imaginaire des Apocalypses, Paris 2003, S. 89-112.
Andrej Viktorovič Gamlickij u.a.: Drevnjaja Rusʹ i Zapad. Russkij, licevoj Apokalipsis XVI-XVII vekov, Moskau 2018.
Jérôme Cottin: L’Apocalypse de Dürer. Un modèle estéthique et herméneutique, in: Jean Burgos (Hrsg.): L’imaginaire des Apocalypses, Paris 2003, S. 89-112.