In der Bibliothek der Universität Leiden wird ein Codex aufbewahrt, der eine ungewöhnliche Darstellung des Himmlischen Jerusalem enthält (Cod. Burm Q.3, fol. 148v). Seine Binnenarchitektur findet sich auch in anderen Manuskripten, etwa in der späteren Bibel von Saint-Vaast (Arras, Bibliothèque muncipale, MS 559, Band III, fol. 1). Die thronende Weisheit („Sapientia“/“Sophia“) vor einem Tempel oder Cimborium mit sieben Säulen ist im 9. Jahrhundert ein häufig anzutreffendes Bildmotiv. Gewöhnlich wird, wie auch im vorliegenden Beispiel, zur Erklärung der Spruch „Domus interior ubi Sapientia sedet“ beigegeben. Eine weitere Vorlage ist ein Abschnitt aus der „Psychomachia“ des christlichen Dichters Prudentius (geb. 348, gest. nach 405), die einen allegorischen Kampf zwischen personifizierten Tugenden und Lastern thematisiert (die Ausgabe Leiden bezieht sich auf Psychomachia, V, 868-879). Nach Vers 724 wird ein Tempelbau beschrieben, in den Vorstellungen vom Himmlischen Jerusalem mit einfließen.
Dieser Tempel soll der Palast Christi sein, an seinen Säulenenden sind zwölf Namen eingeschrieben, welche die Seele vor Sünde schützen sollen. Die Mauern erstrahlen durch das Licht von zwölf Edelsteinen. Der innere Tempelbezirk ruht auf sieben Kristallsäulen, in dem die Weisheit auf einem Thron residiert.
Von dieser Pracht vermitteln die Zeichnungen der Romanik allerdings recht wenig. Die früheste Zeichnung aus der Reichsuniversität Leiden befindet sich in einem Konvolut mit 182 Blättern, das vom Kloster Egmond nördlich von Utrecht stammt und das aufgrund der karolingischen Minuskel auf das zweite Viertel des 9. Jahrhunderts datiert werden kann. Es ist aber auch möglich, dass zu diesem Zeitpunkt lediglich ältere Blätter nachträglich beschriftet wurden und die Aufzeichnungen jünger wären. Der Codex entstand vermutlich in Saint-Denis und gelangte von dort in die Benediktinerabtei Egmond. Nach der Zerstörung während der Religionskriege kam die Handschrift 1573 in den Besitz von Janus Gruters (1560-1627); und als Bestandteil der Bibliothek Pieter Burmanns (1668-1741) gelangte sie schließlich an ihren heutigen Aufbewahrungsort.
Es gibt zahlreiche weitere Fassungen, die sich auf verschiedene Textstellen beziehen, aber in der Darstellung von der Leidener Urfassung wenig abweichen. Sie alle sind im 9. oder 10. Jahrhundert angefertigt worden, danach wird diese Darstellungsweise von anderen Motiven abgelöst.
Französische Nationalbibliothek in Paris, MS Latin 8085, fol. 69v (bezieht sich auf Psychomachia, V, 868-894).
Bibliothèque Municipale de Valenciennes, MS 563, fol. 40v (bezieht sich auf Psychomachia, V, 859-867).
Bibliothèque royale de Belgique, Brüssel, MS No. 9987-91, fol. 125 (bezieht sich auf Psychomachia, V, 867-879).
Richard Stettiner: Die illustrierten Prudentiushandschriften, Berlin 1895.
Heien Woodruff: The illustrated manuscripts of Prudentius, in: Art Studies. Medieval Renaissance and Modern, 7, 1929, S. 33-79.
Christian Gnilka: Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963.
Christel Meier: Zur Quellenfrage des ‚Himmlischen Jerusalem’. Ein neuer Fund, in: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur, 104, 3, 1975, S. 204-243.
Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, 2, Berlin 2005, Nr. 363.