Das handgeschriebene Lehrevangelium (auch Patriarchale Homiliar) entstand im 16. Jahrhundert. Es befindet sich in der Moskauer Russischen Staatsbibliothek und ist dort Teil der Handschriftensammlung von E. E. Egorova (Nr. 80). Nachdem auf fol. 28v eine vereinfachte Kopie der Nowgorod-Gerichtsikone wiedergegeben wurde (15. Jahrhundert, Tretjakow-Galerie, Moskau) zeigt fol. 43v eine für das 16. Jahrhundert gängige Darstellungsweise des Himmlischen Jerusalem. Die farbenfreudige Tempera-Zeichnung setzt unten rechts die Hölle, darüber mehrere Architekturen wie links eine Himmelspforte und rechts orthodoxe Kirchenbauten. Das eigentliche Jerusalem ist die runde Vignette links oben, die rechtwinklige Zackenmauer ist mittig in die Vignette gesetzt, oben sind zwischen der Mauer und der blauen Rahmung Engelsköpfe gesetzt.
Fol. 104v wiederholt dann diese Darstellung. Sie zeigt die Vignette, wiederum oben links, nun losgelöst von den anderen Bildelementen frei schwebend. Auch die Engel sind nicht mehr an der Stadtmauer zu finden, sondern einer schwebt mit einem Buch rechts oben über den Heiligen. Weiter unten, im Zentrum der Illustration, bückt sich eine übergroße Christusfigur, die einen Toten aus dem Grab zieht, um ihn in das Himmlische Jerusalem zu bringen.
Das Grundprinzip (unten Tod und Hölle, oben Jerusalem) wird auf fol. 284 fortgesetzt. Die Stadt ist jetzt jedoch anders dargestellt: Sie umfasst als konkav gebogene Mauer die Heiligen und Engel, die um die zentrale Christusfigur mittig gruppiert sind. Im Prinzip ist die Stadtmauer schützend um die Figuren wie der Schutzmantel einer Madonna gelegt, und selbstverständlich finden wir Maria auch hier als Himmelskönigin, rechts von Christus in ihren traditionellen Farben rot und blau.
Auch dieses Prinzip wird erneut auf fol. 522 variiert. Wieder werden die Heiligen mit Christus gezeigt. Das Himmlische Jerusalem ist inzwischen auf zwei gold-gelbe Türflügel reduziert, die im Hintergrund seitlich nach oben ragen (Motiv der aufgesprengten Türflügel). Umgekehrt zur Konzeption in der biblischen Apokalypseschrift verringert sich in dieser kommentierenden Handschrift die Darstellung Jerusalems von einer vollständigen Stadt hinzu zu zwei Torflügeln.
Ю.А. Неволин: Три лицевые рукописи, оформленные кремлевским мастером – знатоком и интерпретатором западноевропейской гравюры, in: Конференция по истории средневековой письменности и книги: тезисы докладов, Ереван 1977, S. 67-68.
Русская библия, Москва 1992.