
Eines der bekanntesten Beispiele einer Weltgerichtsikone zeigt das Neue Jerusalem auf der linken, oberen Seite eines Jüngsten Gerichts. Im unteren Bereich sind Gruppen von Heiligen zusammengestellt, alle in weißen Gewändern. Darüber ist eine Architektur gesetzt, die die Kenntnis italienischer Vorbilder verrät. In der Mitte befindet sich ein leerer Thron mit einem hoch gespannten Baldachin – ein Platz, der Christus vorbehalten ist.
Das Werk im geometrischen Stil ist eine Ikone aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und hat eine Größe von insgesamt 162 x 115 cm. Das Himmlische Jerusalem ist davon lediglich ein Ausschnitt der oberen linken Seite, etwa 40 x 70 cm. Als Teil der Sammlung von A. V. Morozov kam die Malerei 1920 in die Tretjakow-Galerie, Moskau. Der Maler aus der Nowgoroder Schule ist bis heute namentlich nicht bekannt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde durch Ausstellungen und Forschungen diese Ikone immer bekannter, es gibt immer wieder Kopien, die man in orthodoxen Kirchen der ganzen Ostkirche finden kann.
Michail V. Alpatov: Colour in Early Russian Icon Painting, Moskau 1974.
Michail V. Alpatov: Drevnerusskaja ikonopis‘. Early Russian Icon Painting, Moskau 1978.
Vera K. Luarina, W. A. Puschkarjow (Bearb.): Nowgoroder Ikonen des 12. bis 17. Jahrhunderts, Leningrad 1981.
Kurt Weitzmann, Wilhelm Nyssen: Die Ikonen, Freiburg im Breisgau 1981.
В. Н. Лазарев: Русская иконопись от истоков до начала XVI века, Искусство 2000.
Eine frühe Kopie dieser Ikone hat sich aus dem 19. Jahrhundert erhalten. Die Malerei basiert auf Eitempera auf Kreidegrund und hat die Maße von 129 x 98 Zentimeter. Dort ist das Himmlische Jerusalem oben links nur ein kleiner Ausschnitt, glücklicherweise frei von Verzerrungen des Holzes, Abrieb, Farbabplatzern und Retuschen, worunter die die restliche Malerei leidet. Das Werk ist in Russland entstanden, stand aber 2023 in Krefeld zur Auktion an. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Original wurde der rote Solitärturm links außen durch zwei identische grüne Paralleltürme ersetzt, wie es auf frühneuzeitlichen Ikonen beliebt war.
Von der Ikone gibt es sogar eine Interpretation in Beit HaGalil (Israel) aus dem Jahr 2000. Dort steht das „Domus Galilaeae“, ein Zentrum der katholischen Bewegung „Neo-Katechumenaler Weg“. Hier können angehende Priester ihre Ausbildung vollenden, bevor sie ordiniert werden und von hier in die Welt geschickt werden. Geschaffen wurde die Ikone von Kiko Argüello (eigentlich Francisco José Gómez Argüello Wirtz (geb. 1939) einem spanischen Kunstmaler. Diese farbintensive Kopie in Gelbtönung ist heute fast ebenso bekannt wie das russische Original. Das Bild belegt, wie genau der Künstler sich an dem Original gehalten hat: alle Bauten des Himmlischen Jerusalem sind wiederzufinden, in ganz ähnlichen Farben wie auf dem Original, lediglich glänzender, wie auch die Urfassung vor 500 Jahren einmal geglänzt hat.
Textbild: someone10x, Domus Galilaeae 4660 (11871373095), CC BY 2.0