Schwarzaugenmeister: Stundenbuch MS M.1078 (um 1495)

An dieser Miniatur waren mindestens zwei Maler beteiligt: Ein Spezialist für Stillleben, der sich auf die Lilien, den Schmetterling und die Vögel in der Rahmung konzentrieren konnte, und der Schwarzaugenmeister (bzw. seine Werkstatt), der die Szene mit dem Weltgericht ausführte. Rahmen und Bild sind hier vom Umfang und von der künstlerischen Anforderung her gesehen annähernd gleichgewichtig, vom Inhalt her betrachtet war die Illustration mit Christus samt der Heiligen selbstverständlich höherwertiger. Bei der Drei-Figuren-Gruppe auf blauen Wolken konnte man sich auf MS S.1 Morgan anlehnen, das einen ähnlich gewichtigen Rahmen aufweist, dann auch auf KB 76 G 9. Alle diese Werke, wie auch dieses, sind Stundenbücher, die in Flandern am Ende des 15. Jahrhunderts entstanden ist.

Die Rahmung verweist bereits auf die Frührenaissance, die Binnenzeichnung ist in ihrem Thema noch mittelalterlich. Vor allem die Gegenüberstellung von Neuem Jerusalem und Verdammnis findet sich bereits in der Spätantike. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelten sich eigene Traditionen, um 1495 war es Mode, die Hölle als Drachenmaul mit einem Fantasiewesen zwischen Wolf, Drachen und Hund zu zeigen. Auf der gegenüber liegenden Seite wird die Stadt nicht, wie zuvor oft, als Kirche gezeigt, sondern als symmetrischer Rundbau im oberitalienischen Stil der Frührenaissance des Quattrocento – solche Bauten gab es bereits in Florenz und Pisa. Auch der Schwarzaugenmeister, immer auf der Höhe seiner Zeit, kannte solches bereits von einem ca. zehn Jahre zuvor entstandenem Stundenbuch Codex 1117. Hier wurde die Szene etwas dramatisiert: Links zieht Petrus einen nackten Menschen auf seine Seite, rechts wirft ein gehörntes Monster einen Menschen in das Drachenmaul. Der Begriff „jemanden auf seine Seite ziehen“, heute profan verwendet, entstand im Kontext solcher Weltgerichte und ist erstmals in Mittelhochdeutsch seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen.
Diese Miniatur fol. 128v gehört zu dem Stundenbuch MS M.1078 des Cornelis Croesinck aus der Morgan Library & Museum in New York. Dorthin war es 1988 als „Spezialgeschenk“ von Julia P. Wightman gekommen, die zu ihrer Zeit vielleicht bedeutendste Büchersammlerin der USA.

Henri L.M. Defoer, u.a. (Bearb.): The Golden Age of Dutch manuscript painting, Stuttgart 1989.
Philip E. Webber, Johanna C. Prins: Medieval Netherlandic manuscripts in the Pierpont Morgan Library, New York, Brussels 1991.
John Bidwell: Julia Parker Wightman in: Miniature Book Society Newsletter, 60, 10, 2003. S. 9.
Klara H. Broekhuijsen: The Masters of the Dark Eyes. Late medieval manuscript painting in Holland, Turnhout 2009.

 

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