Diese Miniatur S.1 Morgan ist eine gängige Weltgerichtsfassung mit Christus über einer Hölle (rechts) und dem Neuen Jerusalem (links). Ähnlichkeiten bestehen vor allem mit MS 76 G 9, so findet man auf beiden Miniaturen einen blauen, leicht gekräuselten Wolkenhimmel, Christus auf einem sehr dünnen, fast zerbrechlichen Regenbogen, stets mit Lilie und Schwert ausgestattet. MS S.1 Morgan zeigt das Himmlische Jerusalem als komplexen Kirchenbau, zweistöckig, im oberen Bereich mit Engeln besetzt, die mit Posaunen das Jüngste Gericht eröffnen oder für Himmelsmusik sorgen (denn auch in den Wolken sind Engel mit Posaunen eingefügt). Im unteren Bereich hat das Fantasiebauwerk eine markante Rampe, die bei MS 76 G 9 vor allem ein kompositorisches Gegengewicht zum Drachenmaul auf der gegenüber liegenden Seite setzt. Dieses Maul fehlt auf S.1 Morgan, sondern es ist durch eine Höhle ersetzt, in der ein Feuer mit Sündern brennt. Identisch ist auf beiden Miniaturen die Szene vor dem Jerusalemsbau: Petrus, der nackte Gerettete an die Pforte führt – gleiches findet man auch auf den Weltgerichten von Codex 1117 und MS 11.
Diese vier Handschriften bilden eine eigene Gruppe innerhalb der etwa 70 Werke, die dem Schwarzaugenmeister zugeschrieben werden. Von diesem wissen wir eigentlich nur, dass sie ihre Personen mit dunklen Schatten um die Augen ausstatteten – was schon fragwürdig ist, da auf den Weltgerichten sich dieses Augenmerkmal nicht finden lässt. Auch ob der Maler wirklich ein Meister war, ist nicht erwiesen, ebenso wissen wir nicht, ob es sich um eine Person (wofür es gute Gründe gibt) oder um eine Gruppe verschiedener Maler handelt. Gesichert ist jedoch, dass diese Miniatur zu einem Stundenbuch gehört, welches in Utrecht um 1490 entstanden ist. Man findet es als eine der letzte Miniaturen dieser holländischen und lateinischen Handschrift auf fol. 127v. Ein Qualitätsmerkmal dieser Ausgabe ist das üppige Ranken- und Blumenornament, welches auch dieses Blatt auszeichnet. Seinen heutigen Aufbewahrungsort hat MS S.1 in der New Yorker Morgan-Library in New York. 1992 wurde die Handschrift von Clark Stillman erworben; erst seitdem gibt es einen (geringen) Forschungsstand über dieses zuvor wenig bekannte Werk.
Dr. Jörn Günther Antiquariat, Katalog 3, Hamburg 1995.
Klara H. Broekhuijsen-Kruijer: De zwarte-ogen-meesters. Een onderzoek naar de stijl en iconografie van een groep Noordnederlandse miniaturisten rond 1500, Amsterdam 1997.
Klara H. Broekhuijsen: ‚Ende ziet alomme int paradijs‘. Seth’s vision of Paradise as part of an unusual decorative program in a Fifteenth-Century Book of Hours from Utrecht, in: Jeffrey F. Hamburger, Anne S. Korteweg (Hrsg.): Studies in painting and manuscript illumination of the Late Middle Ages and Northern Renaissance, London 2006, S. 103-116.
Klara H. Broekhuijsen: The Master of the Dark Eyes. Late medieval manuscript painting in Holland, Turnhout 2009.
Klara H. Broekhuijsen: Decoration programs in Books of Hours by the Masters of the Dark Eyes, in: Sandra Hindman, James H. Marrow (Hrsg.): Books of Hours reconsidered, Turnhout 2013, S. 353-364.
