Neben den opulenten Farbsymphonien wie in Stundenbüchern, wo das Neue Jerusalem seine volle Schönheit entfalten konnte, kennt das späte Mittelalter auch das Gegenteil: Extrem einfache, farblose Zeichnungen, die in wenigen Minuten entstanden sind. Dennoch erforderte die Bildkonzeption auch hier Wissen und Können. Eine bemerkenswerte Illustration ist das Titelblatt von Jean Gersons Schrift „Ars Moriendi“, die 1514 in Uppsala (Schweden) in Altschwedisch gedruckt wurde (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Signatur I K 586). Der vollständiger Titel lautet „Ars moriendi Johannis gerson lärdom hwrw man skal lära dö til siälenne salicthet“, erschienen ist es bei dem Verleger Paul Grijs.
Jean le Charlier de Gerson (1363-1429) war zu diesem Zeitpunkt bereits fast hundert Jahre tot. Der französische Gelehrte der Pariser Sorbonne hatte mit seinem Sterbebüchlein oder der „Kunst zu Sterben“ 1408 ein Stück Weltliteratur geschaffen, dass über Jahrhunderte übersetzt, neu aufgelegt und kommentiert wurde. In einer Sterbenskunst, einer Art Ratgeber, wie man richtig lebt, um dann richtig zu sterben, durfte im Mittelalter das Neue Jerusalem nicht fehlen.

Der Holzschnitt ist noch ganz dem Mittelalter verhaftet, es dominiert ein Christus, neben dem kaum anderes Platz hat. So wurden die Darstellungen von Neuem Jerusalem und der Hölle auf einem unteren Streifen regelrecht zusammengedrückt. Für eine prächtige Stadt war hier kein Platz, lediglich für einen Kirchenbau mit zwei Fenstern, ähnlich wie zuvor auf vielen Vorlagen, etwa auf Wandmalereien in Taivassalo oder Rymättylän, einer Armenbibel, dem Flügelaltar auf Schloss Draskovich, dem Tympanon auf dem Westportal der Marienkapelle in Würzburg und an vielen anderen Orten – der Typus „Kirchenbau“ war vielleicht das häufigste Objekt, welches, neben der Pforte, das Neue Jerusalem pars pro toto darstellte. Petrus befindet sich hier im Eingang dieser Kirche und begrüßt zwei Nackte – für mehr (etwa Ständevertreter mit ihren Merkmalen) war nicht Platz. Eigenartig wird es eine Etage tiefer. Die Stadt Jerusalem fußt auf dem Haupt einer liegenden Frauenfigur. Nackt, mit geschlossenen Augen und mit gefalteten Händen scheint es sich um eine Tote zu handeln. Vermutlich ist diese Figur Eva, mit folgender Argumentation: Die Vertreibung aus dem Paradies steht komplementär zum Einzug in das Neue Jerusalem. Die menschliche Geschichte, die nun endet, setzte mit dem Sündenfall ein. Eva, die diesen Sündenfall nach mittelalterlicher Vorstellung veranlasst hat, findet nun wirkliche Erlösung, auf anderen Darstellungen zieht sie sogar mit Adam in das Neue Jerusalem ein. So weit ist der unbekannte Künstler dieses Holzschnitts nicht gegangen.
Vermutlich hat dieser oder ein ähnlicher Holzschnitt bereits eine frühere Ausgabe von „Ars Moriendi“ geschmückt. Es handelt sich dabei um „Johās gerson bock aff dyäffwlsens frästilse“ (1495), immerhin das erste in schwedischer Sprache gedruckte Buch (Universitätsbibliothek Uppsala, Signatur Sv. Rar. 10:67). Ausgerechnet bei diesem ging allerdings das Titelblatt verloren. Später rekonstruierte man das fehlende Blatt mit einer kolorierten Handzeichnung.

Mit den feinen Gesichtszügen, der Farbwahl (violettes und gelbes Gewand), aber auch anhand ergänzender Details, wie dem Rosenkranz, den Petrus an Stelle des Schlüssels trägt, oder einem neoromanischen Ornamentband unter der Zeichnung ist es eine historistische Arbeit aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Nationalismus machte sich auch in Schweden bemerkbar, und man akzeptierte es nicht, dass das älteste Buch in schwedischer Sprache derart beschädigt war. Um diesen für die nationale Identität damals wichtigen Band hervorzuheben, hat man gleich eine farbigen Fassung rekonstruiert. Dabei ist es nicht auszuschließen, dass diese Zeichnung (zusammen mit einer weiteren Farbillustration) auf originale, mittelalterliche Leerseiten, die dem Band vorangestellt sind, aufgemalt wurde.
Ericus Nicolai (Bearb.): Ars moriendi Johannis Gerson. Lärdom hwrw man skal lära dø til siälenne salicthet. (Tryckt i Upsala 1514, fotografiskt återgifven),
Sven Grosse: Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994.
Fidel Rädle: Johannes Gerson, De arte moriendi, lateinisch ediert, kommentiert und deutsch übersetzt, in: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hrsg.): Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 2003, S. 721-738.
Alex Stock: Ars Moriendi. Johannes Gersons Sterbebüchlein, in: Geist und Leben, 68, 2016, S. 302-308.


