Chig.A.IV.74: Testamentum Novum (um 1200)

Bei dem Band „Chig.A.IV.74“ handelt es sich um eine Ausgabe des Neuen Testaments aus dem 13. Jahrhundert. Er ist Teil der sogenannten „Chigi-Bibliothek“ aus Siena. Diese war die persönliche Sammlung der römischen Familie Chigi, die mindestens aus der Zeit von Fabio Chigi, Papst Alexander VII., stammt und bis ins 20. Jahrhundert im Besitz der Familie blieb. Der italienische Staat kaufte nach dem Ersten Weltkrieg das Familienhaus und die fast 4000 Bände der Bibliothek. In den vorbereitenden Phasen der Aushandlung des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der faschistischen Regierung überzeugte Pietro Tacchi Venturi (1861-1956) Mussolini 1923, sie der Vatikanischen Bibliothek zu schenken – erst seit dieser Zeit sind die wertvollen Schriften für die Forschung zugänglich, 1987 wurde sie restauriert und 2009 digitalisiert.
Chig. A. IV. 74 ist eine handschriftliche Fassung des Neuen Testaments, die mit 92 Miniaturen eines nicht namentlich bekannten Künstlers der Zeit um 1200 in einem toskanischen Skriptorium geschaffen wurde. Für das Thema Himmlisches Jerusalem ist allein fol. 163v relevant. Nachdem auf Miniaturen zuvor ein Engel die Endzeit ankündigt, Christus auf einem Pferd wiederkehrt und der Teufel für eintausend Jahre verschlossen wird, wird die Erzählung auf fol. 163v. fortgesetzt und abgeschlossen. Das Motiv ist bekannt und öfters dargestellt worden (vgl. MS 434 oder Trinity-Apokalypse): Links Johannes auf Patmos und sein englischer Begleiter, rechts die Stadt Gottes. Originelle, sonst nicht so zu findende Einzelheiten lohnen aber genau hinzusehen.

So scheint der Engel auf einem Felsen wie auf einem Thron zu sitzen, hat aber dennoch die gleiche Höhe wie sein Begleiter. Dieser, also Johannes auf Patmos, trägt ein Manuskript wie aus dem hohen Mittelalter, die es in der Spätantike so aber noch nicht gegeben hat. Die Stadt gegenüber besticht durch ihre Vielgestaltigkeit. Sie erscheint auf den ersten Blick harmonisch und ausgeglichen, dennoch sind die Turme und Tore nicht symmetrisch gesetzt. Ähnlichkeiten in der Anlage bestehen vor allem zu den Ausgaben des Liber Floridus – damals das neueste, was dem Illustrator zur Verfügung stand. Im unteren Bereich sind zwischen die Stadtmauer, die oben durch Zinnen abgeschlossen ist, drei Tore eingefügt, von denen das mittlere blaue durch seine Größe und Verzierung hervorgehoben ist. Zwischen zwei Tore ist eine einheitliche Reihe von neu kleinen Bauten gesetzt, die in ihrer fünfeckigen Form und dem Knauf auf dem Dach an weitere Tore angelehnt ist. Diese Arkadenreihe ist für westliche Kunst in der Buchkunst selten, später wird auf Ikonen der Ostkirche die Arkadenreihe zu einem bestimmenden Baumerkmal eines Himmlischen Jerusalem.

Yves Christe: Les cycles apocalyptiques du Haut Moyen Age, à propos de trois ouvrages récentes, in: Journal des Savants, 4, 1977, S. 225-245.
Biblioteca apostolica vaticana: Liturgie und Andacht im Mittelalter, Stuttgart 1992.
Chiara Ruzzier: La produzione di manoscritti neotestamentari in Italia nel XIII secolo. Analisi codicologica, in: Segno e Testo. international journal of manuscripts and text transmission, 6, 2008, S. 249-294.

 

tags: Vatikanische Bibliothek, Hochmittelalter, Neues Testament, Felsen
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