Kalenderblatt aus Sachsen (1807)

Eigentlich war das Spätmittelalter die Zeit, in der sich auf Kalendern das Himmlische Jerusalem nachweisen lässt – dies belegen ca. einhundert Miniaturen aus Stundenbüchern. Später gibt es so gut wie keine Beispiele, aus folgendem Grund: Ein Kalender geht von der Fortsetzung von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren aus, wohingegen das Himmlische Jerusalem für das Gegenteil steht, nämlich dem Ende der irdischen Zeit und dem Anbruch einer neuen, göttlichen Zeit, ohne Unterschiede, ohne Voranschreiten, ohne Alterungsprozesse – für den menschlichen Geist, der quasi vergeistigte Zeit ist, nicht vorstellbar, ähnlich wie exponentielles Wachstum.
Es gab nur wenige Ausnahmen. Die erste ist ein Kalender von Jan Ziarnko von 1619. Dieser war vermutlich dem Gestalter des knapp zweihundert Jahre jüngeren Kalenderblatts bekannt, denn der Aufbau des 34 x 20 Zentimeter großen Kupferstichs ist überraschend ähnlich: Zahlreiche separate Einzelbildchen reihen sich rechteckig um eine mittige, beschriebene Tafel. Bei der Fassung von 1807 ist es ein längeres Gedicht in deutscher Sprache – schon der erste Vers thematisiert das Ende, später wird auch von Sklaverei und dem Untergang des Vaterlandes gesprochen. Hintergrund der apokalyptischen Zeitstimmung waren die napoleonischen Kriegszüge mit dem Niedergang ganzer Staaten, was großen Teilen der europäischen Bevölkerung damals wie das Gottesgericht erschien.

Die Anspielung auf Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ zeigt, dass der Kalender aus dem protestantischen Milieu stammt. Die obere allegorische Szenen symbolisiert das Gottvertrauen: Ein Mensch, dargestellt erst als Säugling, dann als Greis, erhält von Engeln den Siegeslorbeer. Vielleicht sind schon hier die Stadtarchitekturen im Hintergrund, die schließlich vom göttlichen Licht beschienen werden, als Himmlisches Jerusalem zu sehen. Deutlicher wird dies bei der separaten Illustration der linken Seite: Auf einem mächtigen Fels thront die Stadt Gottes. Von den symmetrischen Bauten ist der mittlere Turm erhöht und mit einem Kreuz ausgezeichnet, über dem das Auge Gottes in einem Dreieck wacht. Auf den Protestantismus weist auch die gegenüber gesetzte Stadt. Es ist Dresden, vorne findet sich das kursächsische Wappen. Über diese Stadt geht ein Unwetter hinweg, doch sie wird von einem Engel geschützt.
Ganz unten sind Szenen aus der Zeitungsproduktion zu sehen: links ein Verlagskontor, rechts Boten beim Austragen von Zeitungen. Zeitungsverlage warben mit solchen kostenlosen Kalendern für ihre Produkte und versuchten dadurch, auch neue Abonnementen zu gewinnen. Das vorliegende Beispiel stammt vermutlich aus Dresden, gedruckt wurde es aber bei Johann Gottfried Seyfert in Zittau. Obwohl einst druckgraphische Massenware, ist das Blatt heute sehr selten. Für keine Bibliothek gibt es einen Besitznachweis; der Einzeldruck wurde erst 2021 über ein Auktionshaus bekannt.

 

tags: Zeitung, Kalender, Sachsen, Fels, Gottesburg
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