„Drama of Creation“ ist vielleicht weltweit der erste Film, in dem das Himmlische Jerusalem eine Rolle spielt. Der religiöse Stummfilm entstand in den USA. Ironischerweise wurde „Drama of Creation“ 1914 uraufgeführt, zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Weltgeschehen tatsächlich in einen dramatischen Zustand befand – es herrschte mal wieder Endzeitstimmung. Der Film entstand auf Initiative von Charles Taze Russell (1852-1916), dem Mitgründer der Wachtturm-Gesellschaft der damaligen Religionsgemeinschaft der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung, die man heute unter dem Namen „Zeugen Jehovas“ kennt.
Charles Taze Russell beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Fragen der Endzeit und nahm auch selbst Berechnungen vor. In „Three Worlds, and the Harvest of This World“ verkündete er, das Ende der Zeiten der Nationen, die sogenannten „Sieben Zeiten“, würden 1914 anbrechen: Die weltliche und kirchliche Macht würden 1914 stürzen, dass Gottesreich anbrechen – das schien ihm der passende Zeitpunkt, seine Berechnungen mit einem Film zu untermauern, mit dem vollständigen Titel: „The Photodrama of Creation“. Es ist eine multimediale Darstellung der gesamten Bibelgeschichte von der Schöpfung bis zum Himmlischen Jerusalem, auf der Grundlage kurzer Filmsequenzen und zahlreicher Farbdias. Der Tonfilm wurde mit Schallplatten synchronisiert, das damals modernste Verfahren, das Russell zur Verfügung stand. Die Gesamtkosten wurden auf 300.000 US-Dollar geschätzt, damals eine unvorstellbare Summe, die nur durch großzügige Spenden aus dem Kreis der Anhänger Russells aufgebracht werden konnte. Finanziell eingebracht hat der Film nichts, denn die Aufführungen waren kostenlos.
Das gesamte Drama dauerte acht Stunden, was gewöhnlich über vier Wochen verteilt wurden. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es eine große kineastische Begeisterung, und die meisten Filmbesucher waren Mitglied einer christlichen Kirche, so dass „Drama“ ein Erfolg wurde, eine weltweite Tournee mit Filmaufführungen in Kirchen, Gemeindesälen und Autokinos wurde organisiert: Schätzungsweise neun Millionen Menschen haben „Drama“ seit der Premiere in New York (Januar 1914) im ersten Jahr gesehen, und noch heute kann man die Originalfassung im Internet finden Russell betonte, dass alle seine Schriften vom Geist Gottes gekommen sein sollen, und auch der Film sei direkt von Gott inspiriert – für moderne Menschen eine vielleicht eigenartige Vorstellung, für religiöse Menschen der damaligen Zeit aber durchaus nachvollziehbar und ein zusätzlicher Grund, den Film nicht zu verpassen.
An „Drama“ wurde bereits seit 1912 gearbeitet und konnte mit dem Himmlischen Jerusalem zu Beginn 1914 abgeschlossen werden. Die heilige Stadt wird in zwei Glasdias präsentiert. Es sind runde Illustrationen. Man soll den Eindruck gewinnen, die letzten Dinge wie durch ein Fernrohr beobachten zu können. Der Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass die Bilder im Film sich langsam vergrößern und so dem Betrachter näherkommen.
Zahlreiche Menschen in antiken Gewändern spazieren durch eine idyllische Landschaft in Richtung des Neuen Jerusalem. Die Stadt im Stil des Art Deco zieht sich im Hintergrund entlang, sie scheint ganz aus gewaltigen Kuppelbauten und schmalen Türmen zu bestehen, eine weißliche Lichtstadt ohne Mauern. Gott selbst ist hier präsent, nicht in, sondern über der Stadt, am Ende einer gewaltigen Freitreppe. Beide Illustrationen sind sich sehr ähnlich, es gibt nur minimale Unterschiede (einmal sitzt Gott auf einem Thron, einmal steht er mit erhobenen Händen). Eine unterschiedliche theologische Aussage ist hier nicht zu finden, sondern man gewinnt den Eindruck, dass am Ende des Projektes noch Raum für ein Dia war und man das Motiv einfach wiederholte.
Beide Illustrationen stammen offensichtlich von gleicher Hand. Welcher Illustrator sie damals geschaffen hat, ist genauso unbekannt wie die Frage, ob die originalen Glasdias noch heute vorhanden sind. Die Bilder waren jedenfalls populär, denn man findet sie später in weiteren Publikationen der Zeugen Jehovas abgedruckt. Lediglich eine Illustration ist mit „A. W.“ signiert – vielleicht bringt die KI eines Tages den vollständigen Namen zum Vorschein.
Scenario of the photo-drama of creation, Pittsburgh 1914.
Richard Alan Nelson: Propaganda for God: Pastor Charles Taze Russell and the Multi-Media Photo-Drama of Creation (1914), in: Roland Cosandey, André Gaudreault, Tom Gunning (Hrsg.): Une Invention du diable? Cinéma des Premiers Temps et Religion – Eine Erfindung des Teufels? Religion und frühes Kino, Québec, 1992, S. 230-255;
Franz Stuhlhofer: Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas, Berneck 1994 (3).