Mittelalterliche Miniaturen aus „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (1174)

Die folgenden teilvergoldeten Abbildungen sind dem „Liber divinorum operum“ entnommen. Darin beschreibt die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179) ihre Vision der göttlichen Stadt, die weit über die biblischen Vorlagen hinausgreifen. Das Werk befindet sich in Lucca in der dortigen Bibliotheca Governativa (MS 1942). Die zehn Tafeln des Lucca-Codex wurden 1174 abgeschlossen, vermutlich entstanden sie in der Schreibstube eines mit dem Kloster Rupertsberg in Verbindung stehenden Klosters. Den Malern dieser Miniaturen standen als Vorlage allein die Texte Hildegards zur Verfügung. Von den zehn Tafel haben die Hälfte die Stadt Gottes zum Thema.
Die erste Abbildung fol. 143r (oben) zeigt das Himmlische Jerusalem als quadratische Stadtanlage, gemäß der Beschreibung des „Buches göttlicher Werke“, zehnte Vision.

Die Bauten in der Stadt erinnern an spätantike Architekturdarstellungen, und sie finden sich in dem Werk noch an anderen Stellen, etwa auf fol. 121v, Teil drei, vierte Vision. Über der Stadt musizieren Heilige, links oben öffnet sich eine Himmelspforte und strahlt auf eine weitere Gruppe Heiliger. Diese befindet sich auf einer grünen Tonne, die den Zionsberg symbolisiert.

 

Links: Ganz ähnlich zeigt fol. 132r zur achten Vision die Stadt Jerusalem. Rechts: Hier sind auf fol. 135r unter der Stadt Gott und die Weisheit dargestellt (dritter Teil, vierte Vision). Nach Hildegard ist die grün bekleidete Frau links Sapientia, das engelhafte Wesen in der Mitte die göttliche Kraft. Beider Wohnsitz ist selbstverständlich das Neue Jerusalem, dessen rechter Rand hier durch Wellen (Wasser) und Flammen (Feuer) ausgefranst ist.

Die letzte abschließende Miniatur mit dieser Vedute gehört zur sechsten Vision auf fol. 118r. Oben deutet die Hand Gottes auf das Bild, links in einem Kreis ist Moses dargestellt, rechts das Neue Jerusalem. Dazwischen befindet sich ein Hügel, gleichermaßen der Berg Sinai wie der Zionsberg. Die Stadt Jerusalem ist mit sechs Bauten bestückt, die, wie auch die Bauten zuvor, auch romanische Architekturanklänge haben, bzw. Anklänge an die Antike, als dessen Wiedergeburt sich die Romanik verstand.

Friedrich Wilhelm Emil Roth: Die Codices des Scivias der hl. Hildegardis OSB in Heidelberg, Wiesbaden und Rom in ihrem Verhältnis zueinander und der Editio princeps 1513, in: Quartalblätter des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen, 1887, S. 18-26.
Heinrich Schipperges: Welt und Mensch, Salzburg 1965.
Anna Rosa Calderoni Masetti, Gigetta Dalli Regoli: Sanctae Hildegardis revelationes, Lucca 1973.
Barbara Newman (Hrsg.): Voice of the living light. Hildegard of Bingen and her world, London 1998.

 

tags: Benediktiner, Kloster, Romanik, Mystik
Share:
error: