Männlicher Insasse: Jerusalemsgemälde aus dem Gefängnis Heerhugowaard (1960er Jahre)
Die Bildkomposition lebt ganz von der breit angelegten Völkerwallfahrt zum Himmlischen Jerusalem. Während im Mittelalter überwiegend würdevolle Standesvertreter (Papst, Kardinal, König, Fürst und vielleicht ausnahmsweise noch ein Mönch) versammelt sind, in Darstellungen aus den USA oft eine fromme Familie (Mann in Anzug, Frau mit Rock, in Begleitung von Kindern) hebt sich hier die Menschenmenge wohltuend von solchen Klischeebildern ab. Zwar sind hier die meisten Menschen alleine unterwegs, doch man hilft sich gegenseitig. Links unten stützen zwei Menschen eine Gehbehinderten. Rechts außen wendet sich ein weiß gekleideter Mann zurück, um einen Niedergefallenen wieder aufzuhelfen. Links wird sogar ein Mensch im Rollstuhl dem Himmlischen Jerusalem entgegen geschoben – nach meinem Kenntnisstand die erste Darstellung eines Rollstuhls bzw. eines Behinderten in diesem Kontext. Doch nicht alle werden es schaffen, darauf deutet der Untergang eines Schiffes an der rechten Seite. Vielleicht ist es auch eine Kritik an Technikgläubigkeit oder am menschlichen Sicherheitsempfinden?
Das mächtige Tor steht weit offen, in ihm erscheint das Christogramm oder Chi-Rho. Von dort werden die Ankommenden beleuchtet, was man deutlich am Schattenwurf der Personen vorne erkennen kann. Geheimnisvoll steigt diese Stadterscheinung im Hintergrund aus dem Meer auf. Über den mächtigen Zinnen der steilen Stadtmauer, die wie eine Staumauer erscheint, reihen sich weiße Bauten dicht aneinander. Es sind überwiegend Kirchen, dazwischen deutet etwas Grün einen Bewuchs an. Zwischen den Kirchenbauten findet sich auch ein Minarett und eine Synagoge. Es ist damit ein frühes Beispiel für eine Erscheinung, die erst eine Generation später zur Mode werden sollte (vgl. Nikolaus Bette 1990 oder Paul Weigmann 1996). Vermutlich war es hier, außerhalb des kirchlichen Rahmens, eher möglich, eine damals noch provokative Zusammenstellung von Bauten der drei Jerusalemsreligionen zu wagen.
Das Gemälde ist von einem männlichen Insassen in der Strafanstalt Heerhugowaard (Nordholland) in den 1960er Jahren geschaffen worden. Im Kirchensaal dieses Gefängnisses hängt seitdem das wandgroße Gemälde des Neuen Jerusalem aus der Johannesoffenbarung 21, wo es den Besuchern beim Gottesdienst und anderen Veranstaltungen Hoffnung verleihen soll.
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