Mindener Lutherbibel (1718)

Man findet dieses Frontispiz erstmals in der Mindener Lutherbibel (WLB, B deutsch 1718 04) im Verlag von Johann Detleffsen aus dem Jahr 1718. Der Bildaufbau ist ungewöhnlich, aber seine Grundaussage leuchtet sogleich ein: Unten zeigt sich ein Innenraum mit ornamentierten Rundbögen, offensichtlich ein barocker Kirchenbau. Über dem Altarbereich schwebt eine aufgeschlagene Bibel, auf der, wenig originell, „Biblia“ aufgeschrieben ist. Die Taube darüber symbolisiert den Heiligen Geist als Inspiration des göttlichen Wortes, das Zitat aus Johannes Kap. 5, Vers 39 verweist auf Christus. Darunter findet man in emblematischer Tradition ein menschliches Ohr, ein Auge und ein Herz. Mit dem Ohr soll man die Predigt aufnehmen, mit den Augen die Schrift lesen und mit dem Herzen die Liebe Gottes empfangen. Dementsprechend verweisen weitere angeführte Bibelstellen auf das Sehen. In logischer Konsequenz ist der Kupferstich oben mit einer seherischen Vision bekrönt. Die Stadt aus der Johannesvision ist mit einer Mauer umzogen, die Edelsteine imitieren soll und eindeutig aus dem Werk Theatrum Biblicum (1674) entliehen wurde, was ja auch der erklärte Zweck dieser Formvorlage gewesen war. Auch die Einteilung der Stadtviertel in symmetrische Felder ist nicht neu, sie wurde vermutlich der Bilder-Bibel des Johann Ulrich Kraus (1705) entliehen. Während bei Kraus die Mitte der Stadt mit einem runden Zionsberg besetzt wurde, ist hier das Stadtzentrum etwas verunglückt. Zwar erkennt man das Lamm; statt auf einem runden Hügel steht es auf einer ovalen ebenerdigen Fläche, die an einen See oder Teich erinnert, in Anlehnung an das damals im Luthertum gebräuchliche Gesangbuch von Schollenberger.
Der Kupferstich wurde unverändert fast das ganze 18. Jahrhundert in Bibelausgaben gedruckt, man findet ihn noch in der Ausgabe von Johann Augustin Enax von 1784 oder von 1790. Auch wenn er ungemein populär war und anscheinend von der Geistlichkeit als passend empfunden wurde, so bleibt der Erfinder und Stecher des Werkes unbekannt. Es muss jemand gewesen sein, der mit emblematischen Werken und pietistischer Bildkultur vertraut war (vgl. die im gleichen Jahr erschienene Arbeit von Johann Wilhelm Petersen oder die Editionen des Liebeskusses von Heinrich Müller), und der eigenständige Akzente, die durchaus neu waren, zu setzen wusste. Dennoch zeigen sich künstlerische Schwächen, weniger in der systematischen Linienführung der Architektur, mehr dagegen bei Figuren wie den zwölf Engeln über den Toren oder der kopfüber stehenden Taube.

Biblia, Das ist: Die gantze Göttliche Heilige Schrift Altes und Neues Testaments. Nach der Ubersetzung D. Martini Lutheri, Mit sehr vielen schönen Locis Parallelis und kurtzen Summarien über jedes Capitul aufs deutlichste versehen, Minden 1718.
Christian Herrmann: Nützlichkeit und Wahrheit. Das Bibelverständnis als Motivation zur illustrativen Gestaltung von Bibelausgaben, in: WLBforum, 2, 2020, S. 46-52.
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