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MS 10176-78: Spiegelvision des Guillaume de Digulleville (1400-1410)

Diese Ausgabe der „Pélerinage de la vie humaine“ aus dem südlichen Flandern, einem Zentrum der Miniaturmalerei im 15. Jahrhundert, entstand zwischen 1400 und 1410, wahrscheinlich in Artois. Der Prachtband, der einem Adeligen oder Geistlichen gehörte, befindet sich heute unter der Signatur MS 10176-78 in der Königlichen Bibliothek zu Brüssel. Es ist ein Meisterwerk des frühen Flamboyant-Stils mit einer außergewöhnlich aufwendigen Bebilderung, die sicherlich ihren Preis hatte. Heute kann sie jeder kostenlos betrachten.
Fol. 1v zeigt den Bewacher der Pforte als federgeschmücktes Mischwesen zwischen Seraphim und Engel in menschlicher Gestalt, ähnlich wie fol. 87v von MS Fr. F. v. IV. 4.

Fol. 2 zeigt die Szene, in der Mönche als Vögel verkleidet in die Stadt einzufliegen versuchen. Im Gegensatz zu anderen Ausgaben dieses Romans, die vielleicht ein, zwei Vogelmönche zeigen, ist es hier eine ganze Vogelschar. Die Massenszene wird aber auch hier nicht zum Erfolg führen. Die Aufmerksamkeit wird auf die prachtvolle Stadtmauer gelenkt. Es ist eine blau schimmernde Bossequaderung, einzigartig nicht allein für Ausgaben der Pélerinage, sondern für mittelalterliche Darstellungen des Himmlischen Jerusalem allgemein. Rechts führen wenige Stufen zu einem Rundbogentor, wie wir es von Weltgerichtsdarstellungen her kennen (vgl. Néerlandais 3, 1400-1410 oder MS Germ. Oct. 270, um 1465).

Fol. 2v bringt gleich zwei Miniaturen zum Thema, zunächst den Leiterversuch. Neben den filigranen Türmchen links mit dem im 15. Jahrhundert geradezu obligatorischen Georgskreuz auf der Fahne fällt vor allem der rechte Turm ins Auge. Stockwerk um Stockwerk schiebt er sich im Quadrat nach oben, ähnlich wie später ein Turm auf fol. 53v von MS Add. 17399.

Die andere Miniatur der genannten Seite bringt abschließend den letzten Versuch, doch noch in die Stadt zu gelangen. Hier zieht ein zwar großer, aber doch allein gebliebener Mönch an einem ganzen Haufen von Mönchen, die sich so jedenfalls keinen Millimeter bewegen. Die Stadtgestaltung ähnelt der von fol. 2, aber seitenverkehrt, da die Zugangspforte nun nach links gerutscht ist. Die filigranen Dachstrukturen ermöglichen es dem Miniaturisten, sein ganzes Können zu zeigen und sich in Architektur zu versuchen, die man baulich so am Beginn des 15. Jahrhunderts nicht umsetzen konnte.

Nach vielen Seiten mit anderen Thematiken erscheint das Himmlische Jerusalem noch ein letztes Mal in seiner ganzen Pracht über die Doppelseiten fol. 210v und 211 hinweg, bestehend aus einer Vielzahl von Architekturdetails wie Arkaden, Säulen, Bögen und Mauerpartien, überzogen mit gotischen Krabben und anderem Dekor. Durch Öffnungen kann man in die himmlische Stadt blicken und findet Gruppen von Mönchen, betende Frauen und immer wieder Geistliche. Wichtig sind im oberen Bereich links Maria und rechts Christus. Dazwischen finden sich vielzählige Engel mit grünen Flügeln, die mit verschiedensten Instrumenten für himmlische Musik sorgen. Diese Miniatur steht in keinem Bezug zum Text, sondern ist alleiniger Ausdruck der Freude und Schönheit künstlerischen Schaffens, was so nur in außergewöhnlichen Luxusausgaben zu finden ist.

Michael W. Camille: The illustrated manuscripts of Guillaume de Deguileville’s Pèlerinages, 1330-1426, Cambridge (Mass.) 1985.
Bernard Bousmanne, Céline Van Hoorebeeck (Hrsg.): La librairie des ducs de Bourgogne. Manuscrits conservés à la Bibliothèque royale de Belgique, 1: Textes liturgiques, ascétiques, théologiques, philosophiques et moraux, Turnhout 2000.
Bernard Bousmanne, Frédérique Johan, Céline Van Hoorebeeck (Hrsg.): La librairie des ducs de Bourgogne. Manuscrits conservés à la Bibliothéque royale de Belgique, 2: Textes didactiques, Turnhout 2004.

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tags: Pélerinage, Spiegelvision, Luxusausgabe, Prachtband
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