MS Beinecke 406: Spiegelvision des Guillaume de Digulleville (um 1400)

Die Ausgabe MS Beinecke 406 wird heute in der US-amerikanischen Yale University Library aufbewahrt, die sie am 25. November 1969 bei Sotheby’s ersteigerte. Einst ist sie möglicherweise im Nordosten Frankreichs angefertigt worden. Es ist eine Pélerinage des Guillaume de Digulleville, die mit feinen Halbgrisaille-Zeichnungen ausgestattet wurde, wie sie um diese Zeit beliebt waren. Sie gehört zu den zahlreichen Handschriften der Pélerinage, die kurz vor oder kurz nach 1400 entstanden sind: MS Add 38120, dann MS Harley 4399 oder auch MS Douce 300. Vermutlich stammen einige der Miniaturen vom gleichen Künstler oder aus der gleichen Werkstatt wie von der ebenfalls um 1400 entstandenen Ausgabe MS Add 38120 aus der British Library. In Beinecke 406 ist jedoch, wie so häufig, gerade die zentrale Szene auf fol. 1r, in der dem Pilger die Stadt in einer Vision in einem Spiegel vorgeführt wird, zur Hälfte zerstört. Ein Riss geht genau quer durch den Spiegel, so dass vom Himmlischen Jerusalem nur noch der untere Teil mit Resten der Stadtmauer zu sehen ist. Eine Rarität: Bekanntlich fließt aus der Stadt der Lebensfluss nach unten. Hier hat der Miniaturist ein schmückendes Band um den Standspiegel gelegt, was die Assoziation an den Fluss nahe legt.

Eine weitere Miniatur im unteren Bereich der gleichen Seite hat sich besser erhalten und zeigt die Stadt jetzt in toto, wenngleich auch hier Beschädigungen vorliegen. Vor der Stadt stehen links ein Engel mit einem Schwert und rechts anscheinend ein weiterer kleinerer Engel ohne Bewaffnung. Erst wenn man die Geschichte kennt, weiß man, dass es sich hier keinesfalls um Engelsflügel handelt, sondern um selbstgebastelte Vogelflügel, mit denen der verzweifelte Mönch in die Stadt einzufliegen versucht. Er blickt hilfesuchend nach oben, seine Begleitung schaut skeptisch umher.

Eine dritte Miniatur, diesmal auf fol. 1v, ist unbeschädigt und stärker koloriert. Gezeigt wird die Szene, wo verschiedene Mönchsorden ihre jeweiligen Mitbrüder retten wollen. Diese Mitbrüder versuchen, sich mit einer Leiter und einer Kordel zu behelfen. Die Stadt ist nicht länger mit Mauerquaderung oder einem offenen Tor samt Wächterengel davor dargestellt, sondern mit schmalen symmetrischen Doppeltürmen und geschlossenem Zugang.

Thomas E. Marston: William of Rubruc’s trip to the Tartars, in: The Yale University Library Gazette, 45, 1, 1970, S. 12-14.

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tags: Guillaume de Digulleville, Pilgerroman, Spätmittelalter
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