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MS Add. 38120: Guillaume de Digullevilles „Pélerinage de la vie humaine“ (um 1400)

Eine fast unkolorierte Ausgabe der Pélerinage ist MS Add. 38120 aus der British Library (London). Das Werk wird auf um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert datiert. Die feinen Halbgrisaille-Zeichnungen lassen einen talentierten Künstler aus dem Umkreis des französischen Königshofes vermuten. Die erste Miniatur fol. 1r zeigt die noch unbemerkte Erscheinung der Stadt, mit welcher der Roman eröffnet. Diese steht einem Schloss an der Loir, Château de Chenonceau oder auch Château de Pierrefonds in keinster Weise nach. Neben den Bäumen sind einzig die Dächer Jerusalems in roter und blauer Farbe koloriert – ein frühes Beispiel dafür, dass diese beiden Farben für das Neue Jerusalem stehen. 

Die Rückseite fol. 1v bringt die berühmte Spiegelszene, auf der das Himmlische Jerusalem der Hauptperson, die sich hier links im Bett befindet, im Traum erscheint. Interessanterweise nimmt der Spiegel sich wörtlich: Der Stadtmauer sind außen halbkreisförmige Wehrtürme aufgesetzt, die wie umgedrehte Türme aussehen. Tatsächlich erhält man, wenn man diesen Spiegel vertikal spiegelt, ein ganz ähnliches Bild.

Die daran anschließenden Szenen (erneut fol. 1v, 2r und 2v) zeigen vor allem Mauer- und Turmteile der Stadt, die zunächst von einem weiblich wirkenden Engel bewacht werden (fol. 1v). Dieser steht direkt vor dem Haupteingang, mit einem gezückten Schwert ist er sogar bewaffnet, mit seinen Flügeln nimmt er, ähnlich wie Vögel, eine drohende Position ein. Von der Pforte sind lediglich an der linken und rechten Seite des Gewandes Schatten zu bemerken.

Trotz des martialischen Wächterengels lassen sich die Mönche nicht abschrecken, einen Versuch zu unternehmen, in die Stadt zu gelangen. Hier auf fol. 2r wird eine Unternehmung aus dem Roman gezeigt, die in manchen Ausgaben der Pélerinage fehlt: Einige Mönche haben sich, ganz wie Dädalus und Ikarus, ein Federkleid gebastelt und versuchen, über die Mauern zu fliegen. Die skeptischen Blicke der Mönche und des Bischofs über der Mauer deuten bereits an, dass der Versuch misslingen wird.

Es müssen weitere Versuche unternommen werden. Fol. 2v vereint zwei solche Versuche in ein Bild, die ansonsten meist auf zwei verschiedenen Miniaturen gezeigt werden. Links hangelt sich ein Mönch an einer Kordel nach oben, der dabei von seinem Glaubensbruder von oben unterstützt wird. Auf der anderen Seite versucht ein Mönch, die Mauer mit einer Leiter zu überwinden, wobei auch er Unterstützung aus der Stadt erhält.

38120 Huth Bequest. Vol. VII. Les trois pèlerinages: three poems, in: Catalogue of Additions to the manuscripts in the British Museum in the years MDCCCXI-MDCCCXV, London 1925, S. 20-21.
Ursula Pieters: Das Ich im Bild: die Figur des Autors in volksprachigen Handschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln 2008.
Claus Bernet: Die Spiegelvision des Guillaume de Digulleville, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 35).

 

tags: Spiegelvision, Guillaume de Digulleville, Pélerinage de la vie humaine, British Library London, Grisaille, Spiegel, Schwert, Wächterengel, Flügel, Kordel, Leiter, Gotik, Mittelalter
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