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Miniaturen aus der „Klugen Apokalypse“ (19. Jh.)

Diese Miniaturen gehören zu der Handschrift „Kluge Apokalypse“, eine Kommentierung der Johannesoffenbarung, die in der russisch-orthodoxen Kirche vor allem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert populär war. Es hat sich ein Dutzend solcher „Klugen Apokalypse“ erhalten, nicht alle sind bebildert. Diese Ausgabe ist diejenige mit den meisten Abbildungen des Himmlischen Jerusalem, offensichtlich das Hauptthema der Handschrift. Sie sind sorgfältig und zeitaufwendig gearbeitet, unter Verwendung von appliziertem Gold. Aufbewahrt wird die Pretiose heute in der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau (Sammlung handgeschriebener Bücher von E. E. Egorova, Signatur F.98 Nr. 670).

Der Reigen eröffnet auf fol. 54v: Christus erscheint auf dem Thron, wo er zu Gericht sitzt. Zu seinen Seiten sieht man, weit voneinander entfernt, zwei aufgesprengte Türflügel, reichlich ornamentiert in goldener Farbe. Dazwischen sind die sieben Leuchter aufgereiht, unter denen die vierundzwanzig Ältesten sitzen. Diese himmlische Szene ist durch ein Wolkenband klar von unten abgeteilt. Dort finden sich lediglich zwei Personen im intimen Gespräch: Johannes der Seher und ein Engel. Ein Merkmal dieser Ausgabe sind die Kommentierungen, die direkt in die Miniatur eingefügt wurden.

Nach vielen Seiten folgt erst wieder auf fol. 115v eine Illustration mit einem Teil des Neuen Jerusalem. Dort ist oben links mit einem Pfeiler eine Arkade angedeutet. Mit seiner dunkelgrünen Färbung und den profilierten Rillen ähnelt der Pfeiler einem gusseisernen Träger. Wir bekommen, über die Wolken hinweg, einen ersten Einblick in das himmlische Geschehen. Auf dem Tisch liegt bereits das Buch des Lebens, dahinter wacht ein Cherubim. Ein weiterer Engel in menschlicher Gestalt hat diesen Bereich verlassen und ruft mit einer Posaune zum Jüngsten Gericht.

Neben der Posaune ist die Sichel ein weiteres, aber weniger oft thematisiertes Instrument, mit dem die Endzeit eingeleitet wird, bzw. die Ernte eingefahren wird. Dieses zeigt fol. 170v (zuvor auch die „Kluge Apokalypse“ aus dem 18. Jh., fol. 114v). Vom Himmlischen Jerusalem ist bereits etwas mehr zu sehen: Es hat die Gestalt einer orthodoxen Kirche oder Kapelle angenommen, gezeichnet in einem weichen Stil in hellen Pastelltönen.

Die auf fol. 173v folgende Miniatur zeigt die anwachsende Stadt, die Gebäude werden immer prachtvoller und zeigen reichlichen Dekor, vor allem in den Dachzonen. Die Figuren davor sind ausschließlich Engel, während sich die potentiellen Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt noch unterhalb der Wolken, in der irdischen Zone befinden.

Das ändert sich etwas auf fol. 176v, wo Johannes auf Patmos (unten links) die endzeitlichen Ereignisse sieht und hört, die nun fast den gesamten Raum des Blattes einnehmen. Wieder erscheint oben links der Altar, den wir bereits von fol. 115v her kennen. Umgeben ist er aber nicht länger von einer singulären Arkade, sondern von einem immer prächtiger werdenden Sakralbau. Links wie rechts ist angedeutet, dass dieser Bau sich weiter in den Hintergrund zieht.


Auf fol. 186v wird Jerusalem einmal durch eine Himmelspforte repräsentiert. Ihr ornamentierter Renaissancerahmen ist fast so opulent wie das Wolkenband. Was im spanischen und neuspanischen Katholizismus hundertfach aufgegriffen wird, findet sich in Werken der orthodoxen Kirche seltener. Inhaltlich sind wir immer noch bei den Plagen und Drangsalen, die die Welt und Menschheit erleiden. Hier strömt Ungutes direkt aus der Himmelspforte, die doch eigentlich dazu dient, Rettung und Schutz zu gewähren.

Während in der unteren Zone von fol. 196v die Welt spektakuläre untergeht (Erdbeben), tut sich in der oberen Zone nicht viel. Der Illustrator steht vor der Herausforderung, diese Zone zu füllen, wobei sich die gesamte eigentliche Handlung unten abspielt. Man greift zu Bewährtem: ein Altar, ein Engel, etwas Himmelsarchitektur.

Erst jetzt, nach einer langen Reihe von Himmelsarchitekturen, kommt der eigentliche Höhepunkt: die Illustrationen zu Kap. 21 und 22 (inhaltlich identisch mit fol. 230v der Apokalypsehandschrift aus dem 18. Jh.). Die erste Illustration lebt ganz von dem radikalen Kontrast der kargen Landschaft zu der prächtigen Stadt. Diese ist polygonal und wird von mindestens drei Engeln in der Schwebe gehalten. Hohe Mauern sieht man im Vordergrund, einen Teil mit den Zinnen auch im Hintergrund, so dass deutlich wird, dass die Wohnbauten und Kirchen vollständig umschlossen sind. Die Tore wurden mit prächtigen Türmen versehen, hier zeigt sich das ganze Können des unbekannten Illustrators. Noch scheint die Stadt ebenso unbewohnt zu sein wie die Landschaft unter ihr.

Das große Finale bringt fol. 243v. Man blickt von oben in die Stadt. Diese hat sich entfaltet, der Rahmen ist gewissermaßen weggesprengt, wie einst die Torflügel in der ersten Miniatur. Fol. 243v kommt gänzlich ohne den türkisfarbenen Rahmen aus, die Strahlen der Stadt lassen ihn in den Hintergrund treten. Die Mauern bilden ein Rechteck mit drei bis fünf Toren an jeder Seite. Wechselweise haben sie eine blaue oder rote Färbung, auch in der Ostkirche sind dies die Farben des Neuen Jerusalem (Blut und Lebensstrom). Die Stadt ist jetzt belebt. Nicht nur stehen Engel in allen zwölf Toren, sondern zahlreiche Heilige haben sich in Gruppen zusammen gefunden, anonyme Einsiedler bis zu Maria (links) und Johannes den Täufer (rechts). Das Zentrum ist mit einer Trinität besetzt (Christus, Gottvater und eine Taube für den Heiligen Geist). Eigenartigerweise ist Christus nicht weit davon ein zweites Mal dargestellt, diesmal in Form des Lammes. Von der alten Welt, die einst noch den größeren Teil einer Miniatur ausmachte, ist lediglich ein brauner Fleck geblieben, der Fels auf Patmos, von dem aus Johannes und der Engel die urbane Erscheinung beobachten (wie bereits auf fol. 54v, die als das Bindeglied zu dieser letzten Miniatur gesehen werden muss).

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tags: Russische Staatsbibliothek zu Moskau, Kluge Apokalypse, Apokalypsekommentar, Pastell
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