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„Worte der Wiederkunft“ aus Russland (19. Jh.)

Innerhalb der Sammlung handgeschriebener Bücher von E. E. Egorova in der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau befindet sich unter der Signatur F.98 Nr. 663 eine Sammlung zur Parusie. Es sind hauptsächlich Auslegungen der Apokalypse von so unterschiedlichen Autoren wie Papst (und angeblicher Märtyrer) Hippolytus (um 170-235) oder Mönch Palladium Mnich (368-430) mit seinen „Worten der Wiederkunft“, die im 18. und vor allem 19. Jahrhundert, aus verschiedenen Gründen, in Russland eine Renaissance erfuhren.
Zusammengehalten werden die unterschiedlichen Apokalypse-Interpretationen von Zeichnungen in einheitlichem Stil und Kolorierung. Früher hätte man den Stil als „volkstümlich“ bezeichnet, was heute viele Wissenschaftler vorschnell ablehnen, ohne aber eine bessere Bezeichnung vorzuschlagen. Gemeint ist eine künstlerische Arbeit, die nicht für einzelne Sammler, sondern für die breite Masse gedacht war, daher einfach zu verstehen und vor allem preisgünstig herzustellen war.
Die an diesen Illustrationen beteiligten Künstler sind ebenso unbekannt wie der genau Entstehungsort- bzw. Entstehungshintergrund. Gesichert ist lediglich, dass die Handschrift unter Stalins Kirchenverfolgung aus einem russisch-orthodoxen Kloster in den Staatsbesitz kam und seitdem der Forschung zur Verfügung steht.
Alle Illustrationen mit einem Bezug zum Himmlischen Jerusalem findet man im ersten Drittel des Bandes. Es sind Beizeichnungen, das heißt, sie decken nur einen Teil einer Seite ab und lassen noch Platz für den Text.

Bereits fol. 3v thematisiert, was ganz zum Ende aller Zeiten passieren soll. Im unteren Bereich öffnen sich die Gräber und die Menschen finden sich zu drei Gruppen zusammen. Eine ähnliche Gruppierung findet man gewöhnlich bei anderen Darstellungen des Himmlischen Jerusalem, wo unter Arkaden meist drei Heilige zum ewigen Abendmahl zusammen kommen. Nicht jedoch auf dieser Zeichnung. Das Abendmahl ist zwar mit dem Altartisch, Patene und Kelch thematisiert, aber es fehlt noch das Wichtigste: die Bewohner und Bewohnerinnen. Das Neue Jerusalem wurde ansonsten in wenigen Sekunden regelrecht hingeschmiert: Zum Wechsel der drei Farben blieb nicht immer Zeit, oftmals decken sie in der Fläche nicht einmal füllig ab. Ungewöhnlich, ja expressiv ist der Umriss dieser Stadt: nicht rund, nicht quadratisch, sondern polygonal. „Volkstümlich“ sind hier vor allem die Sonne mit einem lustigen Menschenantlitz und die Blumen, die den Menschen früher von ihrer eigenen Lebensumwelt vertraut waren. Sie sind übrigens eine Mode vieler Miniaturen zum Thema, so etwa in der „Passion Christi und das Leben des Heiligen Basilius“, in einem Moskauer Andachtsbuch oder auch schon in dem Sammelband F.98 Nr. 784 der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau.

Fol. 6 setzt die Gerichtsszene fort: Die Menschen sind nun ihrer drei Gräber entstiegen und harren dem Urteil. Selbst die Gestirne schauen bedrückt aus. Der Richter hat über den Wolken auf seinem Richterstuhl Platz genommen, direkt dem Ort des Heils, dem Neuen Jerusalem, gegenüber, dessen Haupteingang noch verschlossen ist.

Der Ort der Verdammnis wird auf fol. 12 rechts unten präsentiert. Auf gruselige Folterszenen wurde verzichtet, auch Monster oder Teufel schienen nicht mehr zeitgemäß, die Verdammten sind am fehlenden Heiligenschein zu erkennen. Das Himmlische Jerusalem im oberen Bereich hat sich weiterentwickelt. Man sieht nun Teile der Stadtmauern und zahlreiche Tore in unterschiedlicher Form und Größe. Rechts schiebt sich der Thron derart an die Stadt, als wäre er ein Teil der Tore und Mauern. Die Pflanzen sind ebenfalls gewachsen und nehmen eine Form an, die an den Baum des Lebens bzw. den Baum der Erkenntnis erinnert. Kurios ist, was Christus in der Hand hält: Einen Reichsapfel, der genau so aussieht wie eine Kuppel der orthodoxen Kirche daneben.

Das grand finale findet sich auf fol. 21v. Die Heiligen sind nun nicht länger vor, sondern in der Stadt. Wichtige Heilige, wie Maria, lassen sich unterscheiden. Auch betrachten wir die Stadt nicht mehr von außen, sondern blicken nach innen. Beeindruckend ist vor allem der Bau an der rechten Seite, der im Gebälk geradezu expressiv auswuchert. Ob diese Formen einen späten Barock ausmachen oder bereits den Expressionismus vorwegnehmen, bzw. ob es sich um eine eigene lokale Stilistik des 19. Jahrhunderts in Russland handelt, muss noch weiter untersucht werden. Moderne Forschungsliteratur zu diesem Band, auch in russischer Sprache, existiert nicht.

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tags: Russische Staatsbibliothek zu Moskau, Russland, Volkstum, Miniatur, Parusie, Jüngstes Gericht, Expressionismus
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