Die Handschrift MS Add. 17399 aus der British Library befand sich einst im Pariser Jesuitenkollegium und gelangte über das Caldecott-Daniel-Huth-Vermächtnis erst in das Britische Museum, dann in die Britische Nationalbibliothek. Der Inhalt ist ein Prolog von Gilbert de la Porrée, anschließend folgt der Text der Apokalypse in Altfranzösisch. Dazu wurden 69 einfache, handkolorierte Zeichnungen in bemerkenswert expressivem Ausdruck eingefügt. Vermutlich handelte es sich um die Ausgabe eines Geistlichen, vielleicht eines Bischofs oder höherrangigen Kanonikers. Wo genau sie hergestellt wurde, wer der Auftraggeber war und welche Illustratoren daran beteiligt waren, wissen wir noch nicht. Mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden könnte man hier Fortschritte erzielen: Würde man alle mittelalterlichen Handschriften chemisch analysieren, könnte man sie in Gruppen nach Herkunft, Zeit und Malwerkstatt ordnen – ein Projekt, welches ganz neue Zusammenhänge aufdecken könnte, aber nicht zu finanzieren ist.
In der Mitte von fol. 3v meditiert Johannes auf Patmos. Er wird von einem Engel unterbrochen, oder von einem Teufel, der sich darunter befindet. Offensichtlich scheint der Teufel bemüht zu sein, die Tinte zu stehlen, damit der Heilige seinen Bericht nicht schreiben kann. Das Pergament vor Johannes fällt nach unten, um dann nach rechts eine Schleife zu machen und die schwungvollen Linien der Bergwelt noch zu verstärken.
Mit dem Teufel könnte der auf tausend Jahre gebundene Satan ebenso gemeint sein wie eine Abbreviatur einer Höllenszene, die sich ja auf mittelalterlichen Gerichtsdarstellungen häufig finden lässt. Im Bildhintergrund entdeckt man zwei Veduten. Links hinter Johannes befindet sich eine irdische Stadt im Tal, und rechts vor ihm ragen, kaum zu erkennen, spitze Türme des Neuen Jerusalem auf einem Berg nach oben.
Das eigentliche Himmlische Jerusalem repräsentiert sich auf fol. 52v als verspielte Miniaturstadt, die den heutigen Betrachter vielleicht an Sandburgen oder Disney-Word erinnert. Für die Zeit am Ende des 15. Jahrhunderts sah so aber in etwa eine durchschnittliche mitteleuropäische Stadt aus: Ein Tor mit Doppeltürmen, eine große Hauptkirche, eine Zitadelle mit einem mächtigen Belfried und kleine Einliegerhäuschen, die zum Teil direkt an die Stadtmauer oder an die Kirchen der Stadt angebaut waren. In der Stadt gehen zahlreiche Personen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach – als ein Himmlisches Jerusalem ist sie allein durch Christus in der Mandorla zu erkennen. Demnach ist die Stadt auch nicht quadratisch, sondern vielgestaltig, wie man es bereits aus der Erfurter Apokalypse kennt.
Die Stadt liegt auf einer grünen Wiese. Auf ihr steht links ein übergroßer Johannes, der ehrfurchtsvoll zu Christus betet. Die Kolorierung überwiegend in Pastelltönen ist zurückhaltend, Teile des Hintergrunds blieben unbemalt.
Eine weitere bildliche Darstellung der Stadt bringt fol. 53v. Hier findet sich wieder die Person, die wir bereits aus den zwei vorangegangenen Miniaturen kennen. Sie wird teilweise verdeckt von einem Engel, der sich zwischen Johannes und die Stadt schiebt. Von Jerusalem sehen wir unten eine Pforte, dann jeweils einen Mauerstreifen, darüber eine Galerie mit Arkaden, dann wieder einen Mauerstreifen usw. Das höchst merkwürdige Gebilde ist ein urbanes verschachteltes Fantasieprodukt, welches sich so ausschließlich in MS Add. 17399 finden lässt.
Léopold Delisle, Paul Meyer: L’Apocalypse en français au XIII. siècle, Reprint New York 1965.
Catalogue of additions to the manuscripts in the British Library, London 1868, S. 13.
Richard Kenneth Emmerson, Suzanne Lewis: Census and bibliography of medieval manuscripts containing Apocalypse illustrations, ca. 800-1500 II, in: Traditio. Studies in ancient and medieval history, thought and religion, 41, 64, 1985, S. 367-409.
Claus Bernet: Miniaturen des Mittelalters, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 28).