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Mittelalterliche Jerusalems-Darstellungen aus dem Kloster Wienhausen (um 1335 bzw. um 1440)

1867/68 wurden im ehemaligen Zisterzienserkloster Wienhausen (nahe Celle in Niedersachsen) großflächige Wand- und Deckenfresken aus dem frühen 14. Jahrhundert freigelegt und umsichtig restauriert. Bis heute erhalten ist eine vollständige raumfassende Gesamtausmalung der Gotik. Sie findet sich im Nonnenchor, einem rechteckigen Obergeschoss-Saalbau. Hier versammelten sich zur Zeit der Ausschmückung Zisterzienserinnen von Sankt Maria. Obwohl dieser Orden für Einfachheit und Schmucklosigkeit bekannt ist, wurden in Wienhausen überaus prächtige und farbige Wandmalereien in Auftrag gegeben. Das Kloster war reich geworden, die ehemaligen Ideale gerieten etwas in Vergessenheit oder wurden ignoriert, die Posten wurden nicht nach Verdienst und Befähigung, sondern nach adeligem Rang vergeben, so dass auch immer mehr Vermögen in das Kloster kam. Zur Zeit der Ausmalung waren von 1328 bis 1228 Lutgard II., dann ihre Schwester Jutte bis 1342 Äbtissinnen, beides Prinzessinnen aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg. Die Künstler, so wird vermutet, holten sie aus dem nahe gelegenen Braunschweig, wo seit der Domausmalung eine umfangreiche Malerwerkstatt ihren Sitz hatte.

Im östlichen Gewölbejoch, direkt über dem Altarbereich, findet sich eine große konzentrische Darstellung mit dem Himmlischen Jerusalem, innerhalb eines vielschichtigen Heilsweges von der Welterschaffung bis zum Jüngsten Gericht. Die zwölf zinnenbekrönten Rundbögen stehen für die Tore des Himmlischen Jerusalem. Im oberen Feld der östlichen Gewölbekappe erscheint der thronende Christus, ganz in Nähe des Schlusssteins. Auf den angrenzenden Kappen findet man eine Versammlung der Propheten, der Ältesten und Heiligen, darunter Alexander und Laurentius, die beiden Schutzpatrone des Klosters. Abgestuft nach unten sieht man auch Bischöfe, heilige Mönche und Nonnen sowie weltliche Herrscher. Nirgends sonst auf den weiteren Malereien im Saal tragen die Personen so kostbare Gewänder, und nirgends sonst herrscht eine solche Häufung und Vielfalt der Architekturdarstellung, die mit einem Blick kaum einzuordnen oder zu erfassen ist.

In einem Kreisfeld auf der Wand unter dem dritten und vierten Joch der Südwand ist ein zweites Himmlisches Jerusalem in einen Schöpfungszyklus eingebaut. Hier sind es weniger Heilige, sondern vor allem Bauten, die die Stadt repräsentieren. Eng aneinander gesetzt machen sie die obere Hälfte des Kreises aus, während die untere Hälfte völlig unbebaut und leblos erscheint. Die Stadt dient hier zur Illustration der Erschaffung des Lichts am ersten Schöpfungstag, da sie allein aus Gott ihre Leuchtkraft gewinnt und dazu weder Sonne noch Mond bedarf (Johannesoffenbarung Kap. 22, Vers 5). In Ergänzung zu dieser symbolischen Auffassung ist gegenüber dieser Darstellung die Erschaffung des Lichts zusätzlich in einem zweiten Kreisfeld anhand von Gestirnen dargestellt.
Nun waren Jerusalemsdarstellungen auch im deutschsprachigen Raum keine Besonderheit, aber die zweifache Repräsentation und die prominente Position in Wienhausen haben doch einen besonderen Grund: In dem Kloster wurde als wichtigste Reliquie ein Tropfen vom Blut Christi aufbewahrt. Mit dem Besitz dieser Heilig-Blut-Reliquie war das Erlösungswerk greifbare Wirklichkeit geworden. Wer sich im Irdischen diese Gnade zukommen ließ, dem schien die himmlische Gnade Gewissheit.

Wiebke Michler: Kloster Wienhausen. Die Wandmalereien im Nonnenchor, Wienhausen 1968.
Victoria Joan Moessner: The medieval embroideries of convent Wienhausen, in: Meredith P. Lillich (Hrsg.): Studies in Cistercian art and architecture, Kalamazoo 1982, S. 161-177.
Horst Appuhn: Kloster Wienhausen, Wienhausen 1986.
June L. Mecham: A northern Jerusalem, in: Andrew Spicer, Sarah Hamilton (Hrsg.): Defining the holy. Sacred space in medieval and early modern Europe, Aldershot 2008, S. 139-160.

 

Wienhausen wartet sogar mit einem dritten Himmlischen Jerusalem auf. Es findet sich am „Heiligen Grab“, das etwas später als das Deckenfresko, wahrscheinlich um 1440, geschaffen wurde. Es handelt sich um eine Christusfigur auf einem Holzschrein, was das Grab in Jerusalem nachzubilden versuchte. Die südliche Dachhälfte des Schreins zeigt in der oberen Zone die Grablegung, die Weihe des Taufwassers und Christus am Limbus (Aufenthaltsraum für Seelen, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind). In der unteren Zone findet man das Pfingstwunder und rechts unten das Himmlische Jerusalem dargestellt. Die Komposition erinnert etwas an die ältere Darstellung in der Abtei Lagrasse, die allerdings zu den Benediktinern gehörte.
Zu sehen sind in Wienhausen zwei Reihen von Arkadenbögen auf rotem Mauerwerk. Die Bögen sind von je einer Person besetzt, überwiegend Männer. In der unteren Reihe befinden sich sechs einfache Personen, die individuelle Gesichtszüge tragen. Über ihnen, in der zweiten Reihe, befinden sich sechs weitere Personen. Es sind Heilige, auch ein Bischof ist darunter. Abgeschlossen wird die Versammlung der Heiligen durch eine obere Reihe von sechs Personen an der Mauerkante, die zwischen den Zinnen herabsehen. In der Mitte befinden sich zwei übereinander geschobene Tondi. Der obere zeigt Gottvater, Christus und vier Engel, der untere das Christuslamm.

Bernhard Gallistl: Eine ikonographische Besonderheit am Heiligen Grab von Wienhausen, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart. Jahrbuch des Vereins für Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim, 53, 1985, S. 53-61.
Jan Pieper, Anke Naujokat, Anke Kappler (Hrsg.): Jerusalemskirchen, Aachen 2003.
June L. Mecham: A Northern Jerusalem: Transforming the spatial geography of the convent of Wienhausen, in: Andrew Spicer (Hrsg.): Defining the Holy: Sacred space in Medieval and Early Modern Europe, Aldershot 2005, S. 139-160.

 

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