MS M 484: Apokalypse der Margareta von York (um 1475)

Diese illuminierte Handschrift entstand um 1475 in Gent, als die Stadt unter der Herrschaft der Burgunder nach militärischen Niederlagen eine wirtschaftliche Blüte erlebte. Margareta (auch Margarete) von York (1446-1503) war als dritte Gattin Karls des Kühnen Herzogin von Burgund geworden. Nach dem Tod ihres Mannes trat sie als Sammlerin und Auftraggeberin von illuminierten Handschriften religiösen Inhalts hervor. In ihrem Besitz befand sich einst diese Illustration der Johannesoffenbarung, die heute ihren Namen trägt und als MS M 484 zur Sammlung der Morgan Library in New York gehört.

Die erste Jerusalems-Abbildung findet sich auf fol. 105r. Hier erscheint eine romanische Kirche mit einem zentralen Turm, davor Christus in einer magisch leuchtenden Mandorla. Vor der Kirche steht Maria als Himmelskönigin, unten in andächtiger Haltung Johannes auf Patmos. Würde man allein den Bau heranziehen, wüsste man kaum, dass er hier für das Himmlische Jerusalem steht. Allein seine Position in den Wolken zeichnet ihn als Himmelserscheinung aus.

Die folgende Abbildung (fol. 111r) zu dem Offenbarungstext 21, 12 zeigt das Neue Jerusalem als kahle Mauer, abweisend ohne Eingänge, ohne Fenster, ohne jedes Zeichen von Leben. Einige Steine sind beige oder blaufarben hervorgehoben, eine gewisse optische Gliederung bringen die zwei Stützpfeiler. Auch hier würde ohne den Kontext kein Betrachter darauf kommen, dass dieser Kasten für das Neue Jerusalem stehen soll. Es war aber zu dieser Zeit beliebt, die Stadt so zu präsentieren, das zeigt ein Blick in MS 30, dort fol. 42r.


Anders repräsentiert sich die Gottesstadt im darauf folgenden Bild (fol. 113r). Es ist die Illustration zu Johannesoffenbarung Kap. 21, Vers 21. Innen ist das Zentrum mit einem purpurnen Thron oder Altar markiert, auf dem das Gotteslamm liegt. Es ist umgeben von Häusern einer niederländisch wirkenden Stadt des 15. Jahrhunderts. Auffällig ist ein runder Turm, der hinten rechts die Dachlandschaft überragt. Er besteht aus mindestens zwei Stockwerken, die schmale Fenster haben, und er hat oben hinter einer Zinnenbekrönung eine Plattform. Einen solchen Turm hat es weder in Jerusalem noch im spätmittelalterlichen Gent gegeben; seine Funktion bleibt unklar.
Nach außen ist die rundförmige Stadt (vgl. Codex Palatino 25) durch hohes Mauerwerk und einen Wassergraben geschützt. Darüber führen Brücken zu Doppeltürmen mit spitzen Kegeldächern. Sieben solcher Doppeltürme findet man im vorderen, sechs im hinteren Halbkreis. Dass der Illustrator damit 13 Türme anstatt zwölf anbrachte, zeigt, dass hier Zeitdruck oder Nachlässigkeit Flüchtigkeitsfehler mit sich brachten. Auch ansonsten sehen die Miniaturen etwas hingeschmiert aus und machen einen unprofessionellen Eindruck, ganz im Gegensatz zu den feingliedrigen Blumengirlanden, die die Miniaturen umranken. Es ist kaum wahrscheinlich, dass alle 79 Miniaturen dieser Handschrift aus der Werkstatt des Meisters der Marie von Burgund stammen, dem sie früher zugeschrieben wurden. Wahrscheinlicher ist hier ein anderer Meister, der ebenfalls das Neue Jerusalem illustriert hat: Simon Marmion (um 1425-1489).

Ungewöhnlich und, im Vergleich zu anderen Handschriften des 15. Jahrhunderts durchaus neu, ist die abschließende Darstellung Jerusalems auf fol. 114v. Hier befinden wir uns nicht mehr vor, sondern bereits im Neuen Jerusalem. Am Rande umschließt eine niedrige, schmucklose Mauer die Stadt wie einen Garten, in deren Mitte sich ein großer Baum befindet. Ähnlich wie bei fol. 105r sind wieder drei Personen vereint; der Seher Johannes, ein Engel und Christus auf einem Thron in den Wolken.

Georges Dogaer: Flemish miniature painting in the 15th and 16th centuries, Amsterdam 1987.
Richard E. F. Straub: David Aubert, escripvain et clerc, Amsterdam 1995. 

 

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