Der Berliner Maler und Zeichner Hans Lietzmann (1872-1955) schuf im Jahr 1915 diesen signierten und datierten Holzschnitt (46 x 38 Zentimeter) als Teil seines Apokalypsezyklus (signiert und mit Monogramm versehen unten rechts).
Vermutlich ist diese Arbeit noch am langjährigen Wohnort des Künstlers am Gardasee entstanden, dessen nördlicher Teil noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Der Holzschnitt wurde erstmals öffentlich zur Münchener Jahresausstellung im Königlichen Glaspalast, dort in Saal zwölf, präsentiert. Das war 1916, mitten im Ersten Weltkrieg. In der eindrucksvollen Komposition in Nachfolge des Schnorr von Carolsfeld, mit Anklängen des Art déco, vermischten sich hier Historismus und Jugendstil zu einer Wirkmächtigkeit, wie es nach 1918 nicht mehr prägend sein sollte und konnte. Die Kraft des Bildes speist sich vornehmlich aus geschickt gesetzten dunklen und hellen Partien. Über drei schmalen, aneinander gesetzten Toren, weiteren Bauten und den blockartigen, abweisenden Stadtmauern Jerusalems schwebt eine mächtige helle Christusfigur zwischen den Wolken, umgeben von Engeln. Sie segnet mit erhobenen Händen die Ankommenden und ist umzogen von linearen Strahlen, die bis an den Bildrand führen. Zu dieser Christusfigur wenden sich im Vordergrund die zukünftigen Bewohner der Stadt, darunter wie im Mittelalter als Vertreter der Stände ein Adeliger in einem kostbaren Hermelinmantel, ein Gefangener mit jetzt gesprengten Ketten, ein Landarbeiter, ein Ritter, rechts außen ein Mönch und links außen ein Dichter, der die Züge Dantes trägt – nach einer Miniatur aus dem 15. Jahrhundert ist hier erstmals wieder der Dichter mit dem Neuen Jerusalem in Verbindung gebracht worden, er repräsentiert hier sogar die deutsche Kultur.
Münchener Jahres-Ausstellung 1916 im Königlichen Glaspalast, 1. Juli bis Ende September, München 1916.
Hans Lietzmann: Berlino, 1872 – Torbole, 1955, Rovereto 2006.
Claus Bernet: Große Künstler, großartige Kunst, Norderstedt 2020 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 48).