Roger Chapelain-Midy (1904-1992): Zeichnung „La nouvelle Jérusalem“ (1975)

Das Himmlische Jerusalem in pyramidaler Form nach oben strebend ist eine Darstellungsweise, die immer mal wieder auch in der modernen Kunst gewählt wurde, etwa in Arbeiten von Peter S. Ruckman (1921-2016), Henry Dunant (1828-1910) oder Joseph Harry Anderson (1906-1996). Hier ist es eine Fassung von dem Franzosen Roger Chapelain-Midy (1904-1992), der vom Symbolismus und Surrealismus beeinflusst war, bzw. dieser Richtung auch angehörte. Anerkennung fand Chapelain-Midy vor allem für seine Bühnenbilder, und auch dieses Werk hat etwas Kulissenhaftes, als wäre ein Vorhang weggezogen und das Stück würde beginnen oder mit dem letzten Akt enden.
Seine Lithographie der Maße 64 x 46 Zentimeter erscheint aufgrund ihrer Feinheit und der seidenen Farbgebung als besonders wertvoll. Von diesem Druck „La nouvelle Jérusalem“ („Das neue Jerusalem“) sind zweihundert Exemplare angefertigt worden, die gelegentlich zur Auktion anstehen.

Unten links, in einem antiken Gewand, erblicken wir Johannes den Seher auf Patmos, der direkt an einer scharf nach unten abbrechenden Felskante sitzt. Sein Haupt ist erhoben, er visioniert in dem Firmament ein gelb-goldenes Jerusalem. Dieses wird nicht getragen, sondern begleitet von drei trompetenden Engeln, die sich um die Wolken ziehen. Die Stadt ist bis oben hin mit klassizistischen und renaissancehaften Gebäuden besetzt, aber ohne christliche Symbolik wie das Lamm, Apostel, Kreuze oder ähnliches. Deutlich ist aber eine Stadtmauer zu sehen, von der jeder Stein eingezeichnet ist. Dazwischen fügen sich in gleichmäßigem Abstand massive Rundtürme ein und führen zu einem polygonalen Grundriss. Die Bauten darüber sind individuell gestaltet und man glaubt, sie schon einmal gesehen zu haben, dennoch sind es keine historischen Gebäude, sondern surreale Fantasiearchitekturen.

Roger Chapelain-Midy: Comme le sable entre les doigts, Paris 1984.

 

tags: Symbolismus, Surrealismus, Lithographie, Fantasiearchitektur
Share:
error: