Diese russische Ikone hat eine Gesamtgröße von 110 x 88 Zentimeter. Thema ist das Jüngste Gericht. Das Himmlische Jerusalem ist dabei ein Ausschnitt der oberen linken Seite. Die Darstellungsweise dieser Weltgerichtsikone ist einzigartig und originell: Die Mauern der Stadt sind weder rund noch quadratisch, sondern in einem Zackenstil gehalten, der sich nach oben verjüngt. So sieht man wechselweise die Stadtmauer von außen und von innen, ähnlich wie auf der Diakonischen Tür aus Solwytschegodsk (um 1575). In einzelnen „Etagen“ sitzen Heilige beim Abendmahl zusammen. Es sind Arkaden, was in der Darstellung des Neuen Jerusalem in der Ost- wie Westkirche eine lange Tradition hat, so dass für russische Ikonen sogar der Typus des Arkadenjerusalem sprichwörtlich wurde. Oben und unten ist in der Mitte jeweils ein Tor mit einem Wächterengel in Gestalt eines Seraphim eingezeichnet, allerdings nicht innerhalb der Mauer, sondern kurz dahinter, also noch innerhalb der klar von der Umgebung getrennten Stadt.
Entstanden ist dieses Kunstwerk in Nordrussland während des 17. Jahrhunderts. Heute befindet es sich im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg, Inventarnummer 1297. Nicht zuletzt aufgrund dieser Gestaltung des Neuen Jerusalem wurde von dem Ikonenexperten V. Codikovic betont, dass nach Aussage von A. A. Mal’ceva von 1977 diese Ikone möglicherweise eine spätere Fälschung sein könnte. Was die Merkmale der Fälschung sein sollten, dazu äußert sich der Experte nicht. Das Kunstwerk wurde dann aus der Dauerausstellung genommen und in ein Depot ausgelagert, wo es für die Wissenschaft kaum einsehbar ist. Ich bin jedenfalls mit meinem Versuch gescheitert, mir vor Ort ein eigenes Bild von dem Kunstwerk zu verschaffen; wahrscheinlich hatte ich keine ausreichenden Russischkenntnisse oder nicht die geeigneten Referenzen. Auch wenn es eine Fälschung sein sollte, ist es für die Geschichte der Fälschungen durchaus interessant, es könnten von der Arbeit auch Impulse auf andere Werke ausgegangen sein.
Nikodim Pavlovich Kondakov: The Russian icon, Oxford 1927.
Vladimir Codikovič: Semantika ikonografii Strašnogo Suda v russkom iskusstve 15.-16. vekov, Ul’janovsk 1995.
Gosudarstvennyj Russkij Muzej (Hrsg.): ‚Rossija‘ v Nju-Jorke i Bilbao, St. Petersburg 2006.