An der Fassade der römisch-katholischen Kathedrale zu Amiens befanden sich bereits zwei mittelalterliche Darstellungen des Neuen Jerusalem, die in der Frühen Neuzeit um wiederum zwei weitere bereichert wurden. Dabei handelt es sich um ein Chorgestühl, ein wahres Meisterwerk des französischen Manierismus. Der gotische Bau wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit Renaissance-Schnitzereien bereichert, die verschiedene Symbole Mariens aus der Lauretanischen Litanei zeigen. Solche Beispiele aus Holz sind extrem selten, meist wurden die Symbole in Stein gearbeitet und koloriert. Vergleichbar ist diese Arbeit nur noch mit Schnitzereien in der Kathedrale El Pilar in Saragossa.
Die Arbeiten in Amiens begannen im Jahr 1508 und konnten 1519 abgeschlossen werden. Namentlich sind die Künstler leider nicht bekannt. Man vermutet einen örtlichen Handwerksbetrieb, der die Tafeln nach gemalten Vorbildern aus frühneuzeitlichen Druckwerken oder Ölgemälden kopierte. Am ehesten in Frage kommt sicherlich die Vorlage von Thielman Kerver aus dem Jahr 1503 und kurz darauf folgende Kopien.
Untersuchungen haben ergeben, dass das Eichenholz extra aus Südfrankreich angeliefert wurde. Möglicherweise sind die Schnitzereien nicht abgeschlossen: Alle Mariensymbole besitzen ein Spruchband, auf dem jedoch noch nichts aufgeschrieben steht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier noch eine Bemalung oder Eingravierung vorgesehen war. Wie auch immer, Vergleiche haben eindeutig ergeben, dass oben die Civitas Dei und unten die Porta Coeli dargestellt ist. Beide Symbole schweben nicht etwa auf Wasser, sondern auf gekräuselten Wolken, wie es um 1500 Mode war (vgl. eine entsprechende Darstellung aus gleicher Zeit in der Kathedrale Notre-Dame in Bayeux).
Pierre Leroy: Cathédrale d’Amiens, Paris 1989.
Stephen Murray: Notre-Dame, cathedrale of Amiens, Cambridge 1996.
Claus Bernet: Maria Immaculata. Das katholische Jerusalem, Norderstedt 2014 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 14).
Beitragsbild: Vassil, Stalles Cathédrale d’Amiens 280808 15, CC BY 3.0
