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„Meister mit dem Zeichen MI“: Apokalypseausgaben des Georg Nigrinus (1557 und 1593)

Die Nachwelt meinte es nicht gut mit Georg Schwartz. In der einschlägigen Literatur wird höchstens einmal sein Antisemitismus oder seine Intoleranz gegen Andersgläubige jeglicher Art erwähnt, anderes interessiert nicht. 1530 wurde er in Hessen geboren. Ungewöhnlich für seine Zeit: Schwartz war ein sozialer Aufsteiger, als erster in seiner Familie besuchte er eine Lateinschule, später studierte er Theologie an der Universität Marburg. Im Gegensatz zu vielen seiner Kommilitonen stammte er nicht aus einer Pfarrersfamilie, sondern sein Vater war ein Seifensieder, der seinen Sohn finanziell nicht unterstützen konnte. Im Umkreis der Reformatoren wirkte Schwartz als Prediger, bis man ihm 1563 in Gießen eine Pfarrstelle anvertraute. Schwartz hatte es geschafft; er hatte jetzt Muße, als Literat hervorzutreten und wählte dafür den Humanistennamen „Negrinus“. Im chiliastisch geprägtem Umfeld der Frühreformation entstand sein Hauptwerk „Apocalypsis. Die Offenbarunge Sanct Johannis des Apostels vnd Euangelisten“. Es ist eine Sammlung von 60 Predigten, die Negrinus zuvor gehalten hatte – anscheinend waren es langatmige Predigten, denn der Band kommt auf über 600 engbedruckte Seiten. Der Apokalypsekommentar erschien bei Nicolaus Henricus, der 1557 in Ursel (Oberursel) eine Druckerei gegründet hatte. Ausgestattet wurde der Band mit neuwertigen Holzschnitten ohne Angabe eines Künstlers. Auf Seite 575 schmückt eine Illustration die Eröffnung des 21. Kapitels der Apokalypse. Eine Besonderheit ist das geometrische Muster des Renaissancerahmens, die mehr Platz einnimmt als die eigentliche Zeichnung. Das Himmlische Jerusalem wurde in eine urwüchsige Natur eingebunden, in der noch die Darstellungsweise von Georg Lemberger anklingt. Die Häuser und Tore, auf denen winzige Engel gesetzt sind, wurden nicht in Reihen geordnet, sondern ziehen sich lose an einem Berghang hinauf. Diese Vor- und Rücksprünge wiederholen sich auch bei der Stadtmauer, die die Stadt nicht als Quadrat umschließt, sondern unförmig, wie in der Realität bei den allermeisten Städten. Vor der Stadt befindet sich ein dichter Busch- und Baumbewuchs, der von der Stadtmauer ohnehin nicht viel erkennen lässt. Aus den Strahlen um die Stadt, die in vorangegangenen Ausgaben zur Bibel immer deutlicher das Bild bestimmt haben, ist nun eine Sonne über der Stadt geworden – was eigentlich dem Wortlaut des Bibeltextes widerspricht, da die Stadt allein vom Geist Gottes erleuchtet werden soll. Die Sonne befindet sich jedoch nicht wie üblich am zentralen höchsten Punkt, den hier der Kopf des Engels einnimmt, der zusammen mit Johannes von oben herab die Himmelserscheinung beobachtet.
1585 findet man das Kunstwerks bereits wieder. Es illustriert jetzt eine zweiteilige lateinische „Biblia Sacra, ad optima quaeque veteris et vulgatae translationis exemplaria“, erschienen in Frankfurt am Main. Es war eine Gemeinschaftsausgabe der Verleger Peter Schmidt, Sigmund Feyerabend, Heinrich Tack und Peter Fischer. Wer damals an dieser Bebilderung mitgearbeitet hat, ist leider nicht wirklich erwiesen. Ein Mitarbeiter war Jost Amman (1539-1591), der jedoch nicht alle Holzschnitte alleine ausführte. Den betreffenden Holzschnitt, übrigens wieder mit der markanten Rahmung, findet man auf Seite 300v des zweiten Teils.


Wenige Jahre vor dem Tod des Nigrinus kam es 1593 zu einer Folgeauflage seiner Predigtserie. Ort und Verlag haben gewechselt, diesmal wurden die Predigten vom Verlag Spies in Frankfurt am Main herausgebracht. Auch hier bebildert das Neue Jerusalem die Eröffnungsseite (S. 713) zum 21. Band. Aus dem Holzschnitt ist ein Kupferstich geworden, mit einigen Besonderheiten, die zu diskutieren sind. Zunächst fällt aus, dass der prunkvolle Rahmen inzwischen aus der Mode gekommen und weggefallen ist. Die Anlage der Stadt, die Figuren und die Naturszenerie sind bis auf Nebensächlichkeiten gleich geblieben. Aber: Die Sonne hat eine gewisse Säkularisierung erfahren, da das Tetragramm weggefallen ist. Sie ist nun prominent über die Stadt gesetzt, ihre Strahlen nehmen doppelt so viel Raum ein wie zuvor. Unten rechts ist die Illustration „MI“ signiert, der unbekannte Künstler bekam den Notnamen „Meister mit dem Zeichen MI“. Nur eine einzige der übrigen Illustrationen dieser Ausgabe ist ebenso signiert, nämlich diejenige auf Seite 204. War nun dieser „Meister mit dem Zeichen MI“ auch bereits an der Ausgabe von 1557 beteiligt, hat damals aber auf seine Initialen verzichtet? Hat der „Meister mit dem Zeichen MI“ einfach die Illustrationen von 1557 leicht abgeändert als seine eigenen Werke ausgegeben? Gelangten die Illustrationen vielleicht von einer ganz anderen Ausgabe, die wir (noch) nicht kennen, in die Werke von Nigrinus?
Auch die Nachgeschichte ist sonderbar: Der Aufbau der Stadt, die weder dem Quadrat noch dem Kreis entspricht, ähnelt einem Reliefbild von Heinrich Schickhardt in der Kirche zu Ehningen aus dem frühen 17. Jahrhundert. Selbst im späten 17. Jahrhundert ist dieser Bildaufbau noch anzutreffen: In der Johannesoffenbarung des Werkes „Bibel, Das ist, Die gantze Heilige Schrifft Alten und Neuen Testaments“ von 1662 auf Seite 362 ist wieder der Stich der Negrinus-Ausgaben zu finden, und zwar mit den Initialen wie 1593. 1662, lange nach dem Dreißigjährigen Krieg, war diese Komposition aus der Reformationszeit eigentlich längst aus der Mode gekommen. Oder gibt es einen besonderen Grund für die augenscheinliche Popularität des „Meisters mit dem Zeichen MI“? Vielleicht war es bei dem Neuen Jerusalem der gefällige Bildaufbau, bei dem Stadt und Natur ineinander übergehen – die meisten anderen Bibelausgaben des 17. Jahrhunderts zeigen symmetrische Stadtanlagen, von einem geraden Kanal durchflossen, ohne einen Baumbewuchs, der über den Lebensbaum hinausgeht. Vielleicht war in Frankfurt, wo der Band 1662 beim Verlag Endter/Wust erschien, die Illustrationen des benachbarten Verlags Spies noch bekannt und standen zur Verfügung.

 

tags: Holzschnitt, Kupferstich, Bibelausgabe, Renaissance, Reformation, Humanismus, Predigt, Rahmen, Hessen, Hessisches Staatsarchiv Marburg
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