Mittelalterliche Miniaturen aus „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (um 1220)

Eine spätere mittelalterliche Fassung des Liber Scivias der Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179) aus der Universitätsbibliothek Heidelberg (MS Sal.X.16) wurde um 1220 im Zisterzienserkloster Salem am Bodensee angefertigt, kurz nach dem Ableben der Verfasserin. Sie zeigt auf fol. 111v die Himmelsstadt als Quadrat in einem Kreis eingeschlossen. Sie besitzt eine blaue Stadtmauer, deren einzelne Quadersteine eingezeichnet wurden, neben mehreren Türmen und farbigen Steinen für das Fundament. Hier sieht es so aus, als wären die Steine durcheinander geschüttelt worden und würden in einer Ecke liegen. In einem zweiten, kleineren Kreis rechts oben neben der Stadt thront Christus. Das zurückhaltend kolorierte Blatt verwendet lediglich rote, grüne und blaue Farbe.

Die Abbildung gehört zu Stadtvisionen Hildegards von Bingens, welche in den „Gesichten“ (Visionen) von „Scivias“ regelmäßig wiederkehren. Im Gegensatz zu anderen, häretischen Ansichten machte die Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen klar, dass die Gottesstadt eine spirituelle, transzendente Angelegenheit sei: „Das himmlische Jerusalem kann nicht durch das Werk fleischlicher Hände gebaut werden, sondern geistig muß es erstehen durch das Wirken, das aus der Gnade des Geistes kommt. Denn im Geiste leuchtet die Größe und Höhe der heiligen Werke so auf, daß durch sie, die durch die Berührung des Heiligen Geistes in den Menschen entstehen, die himmlische Stadt zu ihrer vollen Schönheit ausgestaltet wird. So liegt sie denn auf dem Berge, aus unzähligen Einzelbauten zusammengefügt, und vereint in sich als edelste, von allem Sündenschmutz gereinigte Bausteine die heiligen Seelen in der Schau des Friedens“ (3. Buch, 10. Gesicht). Ähnlich, wie in den späteren Visionen der spanischen Nonne Maria de Jesus, ist an vielen Stellen die himmlische Stadt bereits hier ein Synonym für die Jungfrau Maria: „O du Sprosse der Jungfrau! (…). Ein Riesenzweig wächst aus dir hervor mit vielen jungen Trieben, denn durch dich wird das himmlische Jerusalem gebaut“ (2. Buch, 6. Gesicht).

Friedrich Wilhelm Emil Roth: Die Codices des Scivias der hl. Hildegardis OSB in Heidelberg, Wiesbaden und Rom in ihrem Verhältnis zueinander und der Editio princeps 1513, in: Quartalblätter des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen, 1887, S. 18-26.
Louis Baillet: Les miniatures du ‚Scivias’ de sainte Hildegarde conservé a la bibliothèque de Wiesbaden, in: Monuments et Mémoires de la Fondation Eugène Piot, 19, 1911, S. 49-149.
Der Heiligen Hildegard von Bingen Wisse die Wege: Scivias, bearb. von Maura Böckeler, Berlin 1928.
Hildegard von Bingen: Scivias. Übersetzt und herausgegeben von Walburga Storch OSB, Augsburg 1990.
COD. SAL. X 16, in: Wilfried Werner: Die mittelalterlichen nichtliturgischen Handschriften des Zisterzienserklosters Salem, Wiesbaden 2000, S. 314-316.
Tilo Altenburg: Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen, Stuttgart 2007. 

 

tags: Benediktiner, Kloster, Romanik, Mystik
Share:
error: