Heinrich Müller (1631-1675): „Himmlischer Liebes-Kuß“ (1659, 1669, 1679 und 1693)
Heinrich Müller wurde 1631 in Lübeck geboren und war bald ein anerkannter Theologe und Prediger. Sein hauptsächliches Betätigungsfeld war das Abfassen langer und umfangreicher Erbauungswerke als Trostschriften. Diese schrieb er nicht zuletzt für sich selbst; seinem Beichtvater vertraute er einmal an, dass er in seinem Leben nicht einen einzigen fröhlichen Tag gehabt hätte. Als er am 13. September 1675 im Frust völlig verbittert verstarb, heißt es in seiner Leichenpredigt: „Zu Tode hat er sich studiert und meditieret“.
Der „Himmlische Liebes-Kuß“ (Ausgabe Frankfurt/Rostock) ist Müllers Hauptwerk und seine am meisten mystisch akzentuierte Schrift. Sie gehört zu den beliebten und vielfach aufgelegten Erbauungsschriften des Pietismus, wenngleich auch die späteren Theologen das Werk überwiegend ignoriert haben und es auch heute kaum Wissenschaftler gibt, die den „Liebes-Kuß“ kennen, geschweige denn gelesen hätten. Das Konvolut erschien erstmals 1659, als Müller, der noch nicht einmal promoviert war, durch Kungelei eine Professur für griechische Sprache in Rostock erhielt, während fähigere, aber weniger frömmelnde Kandidaten das Nachsehen hatten.
Der „Liebes-Kuß“ besteht aus ellenlangen Ausführungen zur „Göttlichen Liebesflamme“, also zu der Liebe, die Gott den Menschen erwiesen habe, und zu dem Rettungsplan Gottes für die Schöpfung und den Menschen im Besonderen.
Als Abbildung 36 (später 25) zwischen den Seiten 674 und 675 findet man eine Darstellung des Himmlischen Jerusalem als letztes Beispiel für die zukünftige Liebe Gottes. Auf dem Bild ist unten die Sehnsucht nach der Gottesstadt in zwei Bilder gefasst, man sieht einen Engel, der nach oben durch ein Fernrohr blickt, und eine Reiterin auf einem Hirschen.
Das Hirschmotiv spielt auf Psalm 42, 2 an und versinnbildlicht die Geduld auf Gottes Vorsehung: Das Tier drückt hier die Sehnsucht nach dem Himmlischen Jerusalem aus. Über ihm erreicht eine ganze Gruppe von frommen Frauen die Gottesstadt und wird von Christus in Empfang genommen. Hinter ihm ist in einfachen Strichen die Stadt im zeittypischen Schachbrettmuster skizziert, darüber das Tetragramm. Was in ihr vorgeht, ist rechts zu sehen: An einem langen Bankett schmausen und schlemmen die glücklichen Bürger des Himmlischen Jerusalem bei einem Festmahl – ein wahrer Traum in Zeiten, die von Hungersnöten geprägt waren.
1669 (Ausgabe Frankfurt und Leipzig) findet sich ein neuer Kupferstich, der deutlich vertikaler angelegt ist, was mit der veränderten Seitengröße der Neuauflage zu tun hat (Abb. zwischen den Seiten 778 und 779). Die Bildelemente sind die gleichen geblieben, nur ist die irdische Landschaft mit Fluss, Hügeln und Bewaldung etwas erzählerischer ausgestaltet. Das Himmlische Jerusalem und das Bankett wurden gegeneinander ausgetauscht, was in der Auflage 1693 wieder zurückgenommen wurde.
Dazwischen liegt noch ein Kupferstich von 1679 (Ausgabe Frankfurt und Leipzig, zweite Auflage mit im Prinzip gleichem Kupferstich ebenda 1686). Dieser muss erwähnt werden, da das Himmlische Jerusalem darin als Einlegeblatt zwischen den Seiten 778 und 779 neue Elemente bekommen hat: Die Häuser sind auf einmal in Gruppen zusammengefasst, auf den Toren finden sich nun Wächterengel und über der Stadt blicken überall Engelsköpfe aus den Wolken. Das Gotteslamm findet sich zwar noch im Stadtzentrum, aber nicht mehr, wie in den Kupferstichen zuvor, auf einem Hügel, sondern ebenerdig.
1693 (Ausgabe Frankfurt) wurden weitere Anpassungen an den Zeitgeschmack vorgenommen. Vor allem zeigt sich das Bild zwischen den Seiten 716/717 nun in einer barocken Vignette mit überbordendem Rocaillenwerk. Deutlicher ist das Motiv des Pilgerwegs herausgearbeitet: Unten, noch auf der Erde stehend, betrachtet ein Mensch das Himmlische Jerusalem durch ein Fernrohr. Auf der gegenüberliegenden Seite reitet möglicherweise dieselbe Frau auf einem Hirsch durch die Wolken, bis sie schließlich von Christus in Empfang genommen wird, begleitet von Geretteten in Anlehnung an einen Kupferstich von Jacques Callot.
Heinrich Müller, in: Constantin Große: Die alten Tröster, Hermannsburg 1900, S. 236-252.
Dietrich Winkler: Grundzüge der Frömmigkeit Heinrich Müllers, Rostock 1954.
Christian Bunners: Mystik bei Heinrich Müller. Forschungsbeiträge und Forschungsfragen, in: Dietrich Meyer (Hrsg.): Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts, Köln 2002, S. 91-111.