Das „Liber Vitae“, zu Deutsch also das „Buch des Lebens“ entstammt der Abtei New Minster and Hyde, wird heute aber in der British Library in London aufbewahrt (Signatur: Stowe 944). Es ist kein einheitliches Werk, sondern eine Sammlung eher zufällig zusammengebundener Texte. Die Handschrift enthält unter anderem lange Listen lebender und verstorbener Mitglieder der Abtei und ihrer Wohltäter, wie auch historische Berichte verschiedenen Inhalts, finanzielle Abrechnungen sowie schließlich liturgische Texte, etwa Gebete und Gesänge. Vermutlich wurde die Handschrift von dem Priester und Mönch Aelfwine zwischen 1031-1057 begonnen, um die Verbindung der Abtei unter der anglo-dänischen Dynastie mit königlichen Beamten vor der Herrschaft Eduard des Bekenners zu stärken.
Der lateinische Name des Buches – Liber Vitae – spielt auf das Buch des Lebens in der Apokalypse an. Wie man auf Erden die Namen in dieses Buch eintrug, so hoffte man, einst auch im göttlichen Buch des Lebens aufgezeichnet zu sein (Johannesoffenbarung Kap. 20, Vers 12-15). Zu Anfang der Schriftsammlung findet sich die Illustration „The Contest for Souls“, und folgerichtig auch eine Darstellung des Himmlischen Jerusalem, in das die Personen, die in dem Buch geführt sind, auf Einlass hoffen. Fol. 7r besteht aus drei Feldern, wovon das oberste das Himmlische Jerusalem zeigt. Die Symmetrie seiner Mauern wie die Anordnung der Türme ist der von Saint-Chef (1050) ähnlich – ob jedoch das Fresko die Buchillustration beeinflusst hat oder umgekehrt, kann endgültig heute nicht mehr entschieden werden. Auffällig ist im Liber Vitae die Hervorhebung der Petrusgestalt mit der einladenden Geste und dem Schlüssel, der auch in der darunter liegenden Szene eine Rolle spielt; einmal schließt er auf, ein andermal ab. In der Stadt sind vier Adoranten versammelt, die unter einer Christuserscheinung zu finden sind, zwei weitere Gerettete blicken aus Fenstern des unteren Turms.
Die Zeichnung wurde in Tinte ausgeführt. Einzelnen Partien wurden ein helles Grün und Blau aufgetragen. Das Ganze hat etwas Unfertiges, Unausgewogenes; teilweise greifen die Zeichnungen über den Rand, teilweise werden sie vom Rand abgeschnitten.
Walter de Gray Birch (Hrsg.): Liber vitae, London 1892 (Hampshire Record Society, 5).
Barbara C. Raw: Anglo-Saxon crucifixion iconography and the art of the monastic revival, Cambridge 1990.
Simon Keynes (Hrsg.): The liber vitae of the New Minster and Hyde Abbey Winchester, Copenhagen 1996.
Elizabeth C. Parker: The gift of the cross in the New Minster liber vitae, in: Elizabeth Sears, Thelma K. Thomas (Hrsg.): Reading medieval images. The art historian and the object, Ann Arbor 2002, S. 177-186.
Mary Clayton: The cult of the Virgin Mary in Anglo-Saxon England, Cambridge 2002.