Leider ist die Handschrift MS Latin 688 aus der Französischen Nationalbibliothek (Paris) wenig bekannt und so gut wie unerforscht. Sie entstand in Savoyen. Dort war man inzwischen in der Lage, die englischen Apokalypsen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gekonnt zu kopieren, und langsam verlagerte sich das Zentrum der qualitätvollen Miniaturen von Südengland auf Ost- und Zentralfrankreich. Auch der künstlerische Stil hatte sich verändert, die Szenerie ist weniger systematisch, sondern freier, spielerischer, oder, wenn man so will, manieristischer. Nicht nur der zurückgenommene Goldton, sondern auch der breite Bildrahmen sowie die matten Farbtöne verweisen auf das 14. Jahrhundert.
Die erste Miniatur auf fol. 44v erinnert entfernt an MS Douce 180 sowie MS Latin 10474, insbesondere in der Bildkomposition. Eine Besonderheit ist das lateinische Kreuz zwischen den beiden Stadttürmen, das die Darstellung auch als Altartisch erscheinen lässt. Stellvertretend steht das Kreuz für Christus als das eigentliche Zentrum des Neuen Jerusalems, der aber bereits in der Mandorla dargestellt war. Später entwickelte sich die Tradition, Christus ein zweites Mal als Lamm Gottes in der Stadt zu zeigen.
Deutlicher auf die Stadtbeschreibung nach dem Apokalypsetext, der in Latin 688 zusammen mit dem Berengaudus-Kommentar wiedergegeben ist, bezieht sich das folgende Blatt 45r. Johannes und der Engel sind auf der linken Seite positioniert, wobei sich Johannes auf einen Stab stützt – ob es sich um einen Pilgerstab, den Maßstab zur Vermessung der Stadt oder noch um etwas ganz anderes handelt, bleibt unklar. Rechts schiebt sich das Neue Jerusalem zwischen das aufgepeitschte Meer unten und die schwarzen Wolken oben. Deutlich zu erkennen sind an jeder Seite drei Tore, die als einfache Rundbögen gezeichnet sind und auf einem schmalen, braunen Rahmen stehen. Nur das jeweils mittige Tor ist in rot farblich hervorgehoben.
Auch hier ist die Darstellung der Stadtmitte ungewöhnlich und ohne Beispiel. Offensichtlich war sich der Miniaturist unsicher, was man dort zeigen sollte oder könnte. Es folgt also nach Innen ein weiterer, breiterer Rahmen, der zur Innenseite hin mit weißen Rechtecken geziert ist. Da die Breite kürzer als die Länge ist, befinden sich an der Breitseite nur vier, an den anderen zwei Seiten sechs solcher Rechtecke. Von jeder Seite geht ein Dreieck aus, zwei gleichseitig, zwei gleichschenklig. Die Diagonalen dieser Dreiecke ziehen sich weiter bis an die Eckpunkte der Stadt. Die Flächen von zwei dieser Dreiecke sind mit einem Muster versehen, das an Dachschindeln erinnert. Offensichtlich versuchte der Künstler die Stadt von oben zu zeigen, in ähnlicher Weise wie bei manchen Beatus-Apokalypsen, so dass hier vielleicht ein Dach von oben gezeigt sein könnte?
688. Berengaudus, Expositio in septem visiones Apocalypsis, in: Philippe Lauer (Hrsg.): Catalogue général des manuscrits Latins, 1, Paris 1939, S. 240-241.
Émile Mâle: The gothic image. Religious art in France of the Thirteenth Century, New York 1958.