Maitre François: Bildmotiv „Die himmlische und die irdische Stadt“ (1462, um 1475 und 1447 – um 1511)
Im französischen Raum gab es, neben der Maria Immaculata, eine weitere bildliche Interpretation der Civitas Dei. Die himmlische und die irdische Stadt stehen sich gegenüber, bzw. schwebt die himmlische über der irdischen Stadt. Die irdische Stadt ist ein Kreis, in dessen Segmenten sich verschiedene allegorische Szenen abspielen, die sowohl Tugenden als auch Laster aus dem mittelalterlichen Alltagsleben thematisieren. Über allem thront Gott, flankiert von Maria, auf einem himmlischen Podest.
Drei Fassungen sind bekannt, die alle in den 1470er Jahren entstanden sind und die alle vom gleichen Maler, Maitre François, oder aus seiner Werkstatt herrühren.
Vorbild war eine Ausgabe von Jacquemart Pilavaine von 1462. Sie alle dokumentieren den beherrschenden Einfluss, den Augustinus in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in ganz Europa mit seiner Schrift „De Civitate Dei“ genoss. Zunächst zeigt der Maitre François die himmlische und die irdische Stadt am Beginn des ersten Buches auf fol. 3v aus Augustinus’ La Cité de Dieu in einer Ausgabe von 1473. Diese befindet sich heute in der Französische Nationalbibliothek (Paris) unter MS Français 18. Auf dem Ausschnitt drängen sich die Heiligen derart an die Stadtmauer, dass von ihr nur an drei Stellen etwas Mauerwerk zu sehen ist. Blickfang sind die beiden gotischen Türme an den Seiten, die gänzlich unterschiedlich gestaltet wurden.
Eine andere Miniatur stammt aus einer Ausgabe von „De Civitate Dei“, die heute in der Pariser Bibliothek Sainte-Geneviève unter MS 246 aufbewahrt wird. Es ist eine Prachtausgabe des Theologen Raoul de Presles, die in Paris um 1475 für den königlichen Sekretär Mathieu Beauvarlet (gest. 1486) angefertigt wurde. Das Himmlische Jerusalem ist hier durch einen niedrigen Mauerkranz auf fol. 3v zu finden. Von der Stadtmauer ist nun wesentlich mehr zu sehen, und auch die beiden markanten Türme an den Seiten wurden wieder eingefügt, links rund und rechts eckig.
Ein weiterer Ausschnitt mit einer himmlischen Stadt stammt von fol. 6r einer Civitas-Dei-Ausgabe französischer Herkunft, die in Den Haags Museum Meermanno Westreenianum zu finden ist (MS 10 A II). Es ist ein Werk aus dem Besitz von Philippe de Commines (1447 – um 1511), welches um 1478 entstanden ist. Es handelt sich ein Komposit der vorangegangenen Ausgaben. Weggelassen wurden übrigens die musizierenden Engel an den oberen Seiten; dafür wurde das Firmament ausgetauscht durch ein Blumenornament. Beibehalten wurden die zahlreichen Heiligen, die man an ihren Attributen zuweisen kann und die bis in ihre Haltung und ihre Position im Bild übernommen wurden.
18 et 19. De la Cité de Dieu selon monseigneur St Augustin, in: Bibliothèque impériale – Département des manuscrits. Catalogue des manuscrits français, 1, Paris 1868, S. 2.
Alexandre de Laborde: Les manuscrits à peintures de la ‚Cité de Dieu‘ de saint Augustin, Paris 1909.
Miriam Milman: Talent et routine, in: Laurent Golay, Philippe Lüscher (Hrsg.): Florilegium, Milano 1995, S. 104-111.