Diese wenig beachtete Ausgabe der „Pélerinage de la vie humaine“ von Guillaume de Digulleville datiert von etwa 1480. Entstanden in Nordfrankreich, war sie für einen geistlichen oder weltlichen Hof gemacht. Das Werk ist heute im Besitz der Französischen Nationalbibliothek in Paris, wo sich heute die meisten dieser Pilgerroman-Editionen befinden. Die Miniaturen sind einfach in der Ausführung von einem Künstler, der schnell und preiswert Illustrationen in hoher Menge bereitzustellen in der Lage war. Das Himmlische Jerusalem findet sich in der Ausgabe sieben Mal, verteilt auf fol. 1r, 1v, 2r, 2v, 3r, 3v und 4r. Es sind die üblichen Szenen, die bereits zuvor gerne illustriert wurden.
Traditionell öffnet den Reigen die Szene mit dem Pilger im Bett, vor dem sich rechts das Neue Jerusalem aufbaut. Hier wird, wie schon in MS Spencer 19, die Stadt nicht mehr im Spiegel gezeigt, sondern sie breitet sich direkt neben dem schlafenden Pilger aus.
Bemerkenswert ist fol. 1v, wo der Spiegel wie ein Wappen in oder über der Stadt gezeigt wird. Die Stadt scheint ein Hexagon zu sein, an den jeweiligen Ecken sind niedrige Türme mit Kuppeln gesetzt. Die Farben sind, wie in der gesamten Miniatur, helle Pastelltöne, hauptsächlich ein grünliches Gelb bzw. ein gelbliches Grün. Die Rahmung ist denkbar simpel: Mit der Hand wurde ein rotfarbenes Rechteck gesetzt, oftmals schief und nachlässig. Wahrscheinlich wurden die Rahmen von einem Vorzeichner gesetzt, um zu markieren, wo später Miniaturen eingefügt werden. Dieser musste dann mit der Größe der Rahmen klarkommen.
Es folgt, auf fol. 2r, die Szene mit dem Wächterengel vor dem Himmlischen Jerusalem. Hier zeigt sich etwas, was für andere Miniaturen dieses Bandes ebenfalls zutrifft: Teile des Bildes ragen weit über den Rahmen hinaus und führen dort zum Teil ein Eigenleben. Hier sind es links ein Turm und rechts der Engel, die bereits jenseits des Rahmens liegen. Vor allem der Engel wird durch die vertikale rote Linie regelrecht zweigeteilt.
Fol. 2v zeigt nun einen ersten Versuch der Mönche, schnell in die rettende Stadt zu gelangen, allerdings nicht durch gute Taten, sondern durch einen Trick. Sie locken Vögel an und basteln sich mit deren Federn Flügel, um in die Stadt zu fliegen. Wie schon Dädalus und Ikarus, so scheitern auch diese Nachfolger.
Der nächste Versuch, fol. 3r, zeigt die Mönche, wie sie mit einer Leiter in die Stadt gelangen wollen. Diese ist ganz ähnlich wie auf fol. 2v gezeichnet: Ein kleiner Turm links, ein großer Turm rechts, dazwischen eine niedrige Mauer. Ein weiterer, kleiner Turm steht rechts außen bereits außerhalb der Miniatur. Im Gegensatz zu vielen anderen Miniaturen zu diesen Szenen sind auf den Mauern der Stadt keine Bewohner zu sehen.
Fol. 3v präsentiert die Stadt als Triumphbogen, allerdings ohne Pforte. In der Mitte zwischen zwei Türmen hilft ein Mönch seinen Mitbrüdern, sie mit einer Kordel nach oben zu ziehen. Dieser Mönch hat, da er sich bereits im heiligen Raum befindet, einen Heiligenschein.
Fol. 4r hat die Besonderheit, dass nachträglich die Nacktheit der Figuren mit Tinte übermalt wurden. Dies wird sicherlich nicht der Miniaturist gemacht haben, sondern ist das Ergebnis einer späteren Zensur. Es ist eine der selteneren Illustrationen des Pilgerromans, wo Jerusalem auf der linken Seite gesetzt ist. Seine Pforte ist offen, seine Mauern unbewacht, so kann das Eindringen gelingen. Wie es mit den frechen Mönchen weitergeht, will ich hier nicht verraten. Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich, das Weitere im Roman nachzulesen.
Julia Drobinsky: ‚La roche qui pleure et le cuvier aux larmes: les images de la pénitence‘, extrait de Guillaume de Digulleville: Les pèlerinages allégoriques, Rennes 2008.
Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln 2008.
Géraldine Veysseyre: Une trilogie des ‚Pèlerinages‘ à la cour de Bourgogne au milieu du XVe siècle – le manuscrit Londres, British Library, Additional 22937, in: Andreas Kablitz, Ursula Peters (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur als Retextualisierung. Das Pèlerinage-Corpus des Guillaume de Deguileville im europäischen Mittelalter, Heidelberg 2014, S. 287-320.