Die Weinbaugemeinde Kiedrich im südhessischen Rheingau-Taunus-Kreis war und ist stark vom römisch-katholischen Bistum Mainz geprägt, was auch für die Pfarrkirche Sankt Dionysius und Valentinus gilt. In dem gotischen Bau findet sich im Langhaus eine Wandmalerei, dort im südlichen Seitenschiff, am zweiten Joch von Westen her gesehen. Sie wird datiert auf die Zeit um 1380 und wäre damit eine sensationelle frühe Darstellung des Motivs „Tota Pulchra“ bzw. der Maria Immaculata, bei der nach der Lauretanischen Litanei die Symbole Mariens dargestellt werden. Bei einem Alter aus dem 14. Jahrhundert wäre es weltweit mit Abstand die älteste erhaltene Fassung dieses Motivs. Die in der Fachliteratur zu findende Datierung „um 1380“ halte ich inzwischen für falsch, seit ich die Kiedricher Fassung mit den älteren Beispielen aus Frankreich verglichen habe. Bei Miniaturen ist die älteste erhaltene Fassung MS Français 2225 von um 1490. In Frankreich wurde das Motiv im Rahmen von Stundenbüchern im frühen 16. Jahrhundert bekannt und hat sich dann sensationell in ganz Westeuropa ausgebreitet. Als Wandmalerei erinnere ich an die älteste französische Fassung in Montaner, um 1520. Die Kiedricher Variante ist vielmehr eine Kopie des Stundenbuchs „Hore intemerate beate Marie virginis“, das 1502 (1503) bei dem Buchhändler und Verleger Thielman Kerver (gest. 1522) in Paris erschienen ist. Mit einer realistische Entstehungszeit Mitte oder Ende des 16. Jahrhunderts ist sie immer noch eine der ersten Beispiele im deutschen Sprachraum.
Hier zu sehen ist die Himmelspforte links vom Kopf Mariens in einer einfachen, die geometrischen Grundformen des Baus betonenden Weise. Sie ist an einen antiken Triumphbogen angelehnt und besitzt eine geschlossene, hölzerne Pforte, deren Dach die beiden Türme geringfügig überragt.
In der Bildecke unten rechts ist die Gottesstadt abgebildet. Auch hier haben wir eine ähnlich gefasste Pforte als Rundbogen. Zahlreiche Türme schieben sich über die Mauern nach oben, wachsen teilweise auch aus den Mauern heraus. Die Kuppeln und Dachpartien sind mit einem Goldton bemalt, was zu dem Grau der übrigen Stadt einen scharfen Kontrast abgibt. Wie üblich bei diesem Motiv sind die Symbole auch durch lateinischsprachige Schriftbänder gekennzeichnet. Um 1870 wurde das 200 x 142 Zentimeter große Fresko von Franz August Martin umfassend restauriert und möglicherweise ergänzt. Für Martin war die Arbeit Anlass, sich in Kiedrich niederzulassen, wo er 1901 verstarb.
Clemens Jöckle, Josef Staab: Kiedrich im Rheingau: Basilica minor St. Valentinus und Dionysius, Regensburg 2011 (13).
Werner Kremer: Kiedrich im Rheingau: Begleiter zum individuellen Rundgang in der Basilica minor St. Valentinus und Dionysius, Lindenberg 2017.